Kritische Astrologie - Die Sichtbarkeit und ihre Macht über unser Leben

Nur der Penis bleibt im Versteck

Kolumne Von

LFEine der wichtigsten zeitgenössischen Forderungen in Politik, Kultur und Systemgastronomie ist die Sichtbarkeit. Probleme, Erfahrungen, Konflikte – alles, alles muss sichtbar gemacht werden; kein Herz, aus dem man eine Mördergrube machte, kein Berg, hinter dem man mit seiner Meinung halten könnte. Im Medienwesen hat die ständige Herstellung von Sichtbarkeit dazu geführt, dass Schmarrngerede nicht nur gedruckt beziehungsweise vertweetet, sondern vor allem auch in Videos hineingenuschelt wird, schließlich ist dilettantisches Kameragewackel das Leit­medium des 21. Jahrhunderts.

Leider strahlt in diesen Tagen nicht nur die liebe Sonne gut sichtbar auf uns drauf, sondern auch ein unsichtbarer Saturn-Chiron-Transit, der uns bis zum 17. März drangsaliert: »In diesem Zusammenhang ist mit sehr widersprüchlichen, teilweise auch äußerst mysteriösen, kaum nachvollziehbaren Erfahrungen und Ereignissen zu rechnen«, informiert mich »Astrologie heute«. Das erklärt vielleicht, warum der Spiegel-Redakteur Martin U. Müller für das Faktum, dass er täglich mit dem Zug von Berlin nach Hamburg tuckert, audio­visuelle Sichtbarkeit herstellen zu müssen glaubte. Unter der Überschrift »Pendeln in vollen Zügen« zeigt uns Müller zunächst, wie er per App die Zugreihung feststellt (»ein kleiner Trick«); sodann legt er gut sichtbar zwei Handys, eine tragbare Tastatur und das Hamburger Ärzteblatt (man hat studiert) auf den Bistrotisch – gerade mal seinen Penis lässt er in der Hose. »Der große Vorteil ist, dass viele Menschen diese Strecke fahren, mit denen ich auch sonst beruflich zu tun habe, so kommt es vor, dass ich mich in den Zug hinein verabrede«, beichtet er, bevor das Video auch schon wieder vorbei ist.

»Die Sichtbarkeit gewinnt von hellen Unterschieden«, reimte der schon ziemlich durcheinander geratene Hölderin gegen Ende seines Lebens; doch die Unterschiede, sie werden durch Sinnlosbotschaften wie die Müllers ins Wischiwaschi getunkt, bis auch im strahlendsten Licht nichts mehr zu sehen ist. Hoffentlich geht auch dieser Saturn bald an uns vorüber.