Journalistinnen werfen einem russischen Parlamentarier sexuelle Belästigung vor

Übergriffig in der Duma

In Russland werfen mehrere Journalistinnen einem Parlamentarier sexuelle Belästigung vor. Die zuständige Ethikkommission sieht jedoch keinen Handlungsbedarf.

Vor Provokationen muss man sich in Acht nehmen. In den Augen des Vorsitzenden der Ethikkommission des russischen Parlaments, Otari Arschba, gilt dies für Männer sogar mehr als für Frauen. Wenn nämlich eine Frau einen Mann öffentlich der sexuellen Belästigung bezichtige, dann handle es sich mit ziemlicher Sicherheit um einen üblen Diffamierungsversuch. Täten dies mehrere Frauen, muss nach Ansicht Arschbas ein »gezieltes und geplantes Vorgehen« dahinterstecken. Noch verdächtiger machten sich Frauen, wenn sie ihre Anschuldigungen gegen Politiker im Präsidentschaftswahlkampf kundtäten. Dann ist der Fall für ihn glasklar: Die Vorwürfe müssen völlig unbegründet sein.

Dass die Duma kein angenehmer und vor allem kein sicherer Arbeitsplatz für Journalistinnen ist, ist seit längeren bekannt.

Gegenstand öffentlicher Diskussion wurde dieser Umstand aber erst, als Farida Rustamowa vom russischsprachigen Service der BBC, Darja Schuk, eine Produzentin des Internetkanals TV Rain, und die stellvertretende Chefredakteurin von RTVI, Jekaterina Kotrikadse, mit ihren Erlebnissen vor einem Monat an die Öffentlichkeit gingen; zuerst anonym, später unter Nennung ihrer Namen. Alle drei berichteten von sexuellen Übergriffen des Vorsitzenden des Außenausschusses der Duma, Leonid Sluzkij.

Im März 2017 betrat etwa Rustamowa dessen Abgeordnetenbüro, um ihn zum geplanten Besuch der damaligen französischen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen zu befragen. Sluzkij wechselte schnell das Thema und warf der Journalistin vor, ihm aus dem Weg zu gehen und sich nicht von ihm küssen zu lassen. Auf ihre Antwort, dass sie einen Freund habe, forderte er sie auf, diesen zu verlassen. Sie erwiderte, sie wolle ihn aber heiraten, woraufhin der Abgeordnete sagte: »Hervorragend, du wirst seine Frau und meine Geliebte.« Danach nannte er sie »Häschen« und begann sie zu betatschen. Der gesamte Gesprächsverlauf ist durch eine Audioaufnahme belegt.

Sluzkij dementierte und sah sich fälschlicherweise in die Rolle eines russischen Harvey Weinstein gedrängt. In der Tat hinkt der Vergleich insofern, als in Russland keine »Me Too«-Debatte US-amerikanischen Ausmaßes zu erwarten ist. Volle Unterstützung erhielt Sluzkij, ein dem Patriarchen Kyrill nahestehender langjähriger Abgeordneter der Liberaldemokratischen Partei (LDPR), nicht nur von seinen männlichen Kollegen, sondern auch vom Frauenclub der Duma, in dem weibliche Abgeordnete aller Fraktionen vertreten sind. Die mit der Angelegenheit befasste Ethikkommission wollte ebenfalls nichts Anstößiges an Sluzkijs Verhalten finden. Im Gespräch mit dem Internetportal Insider konnte ein Kommissionsmitglied nicht einmal den Begriff sexuelle Belästigung korrekt wiedergeben. »Ich war 300 Mal hübscher als sie«, ereiferte sich die Duma-Abgeordnete Raissa Karmasina, trotzdem habe sich nie jemand an ihr vergriffen.

Nur eine Frau im Parlament stellte sich offen auf die Seite der Journalistinnen. Oksana Puschkina von der Partei Einiges Russland versprach, sich in Zukunft für strafrechtliche Konsequenzen bei sexueller Belästigung einzusetzen. Überraschende Solidarität erfuhren die Frauen von der Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa. Sluzkij habe sich ihr gegenüber ebenfalls ungebührlich geäußert, allerdings noch bevor sie ihr heutiges Amt angetreten hatte. Wer die Schuld bei den Frauen suche oder solche Vorfälle ignoriere, liege falsch. Über 30 Medien kündigten an, keine Mitarbeitenden mehr in die Duma zu schicken, oder verhängten einen Berichtsboykott gegen Sluzkij. Auch kursieren Aufrufe, ihm sein Mandat zu entziehen.

Der Radiosender Echo Moskwy teilte mit, die Duma sei für Medienschaffende unabhängig vom Geschlecht kein sicherer Ort. Damit spielte er auf die immer wieder kolportierte Homosexualität des Duma-Vorsitzenden Wjatscheslaw Wolodin an, der Journalistinnen geraten hatte, bei Bedenken den Arbeitsplatz zu wechseln. Prompt outete sich der schwule Fernsehjournalist Renat Dawletgildejew und gab an, vor über zehn Jahren habe ihn der ­LDPR-Vorsitzende Wladimir Schirinowskij während eines Interviews sexuell belästigt; außerdem hätten seine Mitarbeiter versucht, ihn in die Sauna abzuschleppen.