40 Jahre nach der Entführung und Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden in Italien sind Verschwörungstheorien über den Fall weiterhin verbreitet

Die unbequeme Geisel

Vor 40 Jahren entführten und ermordeten die Roten Brigaden in Rom den christdemokratischen Politiker Aldo Moro. Um den Fall ranken sich heute noch Verschwörungstheorien, die eine politische Aufarbeitung der Konflikte jener Zeit erschweren. Die offene Frage ist jedoch nicht, ob etwa die CIA hinter der Entführung stand, sondern aus welchem politischen Kalkül nichts getan wurde, um Moro freizubekommen.

»Wir waren zehn Personen: Ein Arbeiter bei Breda, ein Techniker bei Siemens, ein Landwirt, eine Erzieherin, ein Handwerker, zwei Tagelöhner, ein Student, ein Arbeitsloser und ich. Zehn gewöhnliche Leute, zwischen 20 und 30 Jahre alt. Proletarier. Unser Ziel war es, einen revolutionären Prozess, einen sozialen und politischen Kampf zu initiieren, der seit langem schwelte. Wir betrachteten diesen großangelegten Angriff auf den italienischen Staat als einen wichtigen Schritt im laufenden revolutionären Prozess.«

So schildert Prospero Gallinari 2011, zwei Jahre vor seinem Tod, in der ­Arte-Dokumentation »Sie waren die Terroristen der Roten Brigaden«, die Zusammensetzung und die politischen Ziele des »Kommandos Via Fani« der Roten Brigaden (BR), die am frühen Morgen des 16. März 1978 in Rom durch einen bewaffneten Überfall den damaligen Vorsitzenden der Christdemokratischen Partei (DC) Aldo Moro entführten und dabei seine fünf Leibwächter ermordeten.

55 Tage später endete die Entführung mit der Hinrichtung der Geisel, nachdem sie in einem »Volksprozess« zum Tode verurteilt worden war. Die Leiche des Politikers wurde im Kofferraum eines Autos in Roms historischem Zentrum gefunden.

 

Die Roten Brigaden fürchteten den Bürgerkrieg nicht, im Gegenteil, sie wollten ihn herbeiführen. Obwohl sie nicht an der Bewegung von 1977 be­teiligt waren, wussten sie, dass große Teile der außerparlamentarischen Linken in jenen Jahren sie höchstens ansahen als »Genossen, die sich irren«.

 

Der »historische Kompromiss«: Italien befrieden

Wäre er an jenem Tag nicht von den BR entführt worden, wäre Moro in der Abgeordnetenkammer im Palazzo Montecitorio pünktlich angekommen, um der neuen, von seinem Parteikollegen Giulio Andreotti geführten Regierung das Vertrauen auszusprechen. Die Regierung Andreotti war der politische Ausdruck eines Projekts der grundlegenden Transformation der italienischen Nachkriegsgesellschaft, die Moro gemeinsam mit der damals zweitstärksten politischen Kraft des Landes, der Kommunistischen Partei (PCI) unter Enrico Berlinguer, realisieren wollte und die unter dem Namen »historischer Kompromiss« bekannt ist.

Es sind die Jahre, in denen nicht nur das politische Establishment, sondern die gesamte italienische Gesellschaft dramatische Entwicklungen befürchtet: Attentate, Strategie der Spannung – von einem Staatsstreich bis zum Bürgerkrieg war alles denkbar. Es sind vor allem die Jahre der Autonomia Operaia, der besetzten Fabriken, der Bewegung von 1977 und der Demonstrationen, auf denen scharf geschossen wird. Gegen den »historischen Kern« der BR, die sich 1970 in Mailand gegründet hatten, läuft zum Zeitpunkt der Entführung bereits seit zwei Jahren ein spektakulärer Prozess in Turin.

Die nicht inhaftierten Mitglieder der bewaffneten Guerilla verüben eine Serie von Anschläge auf Personen, die als Symbole der »Konterrevolution« auserkoren werden. Die Opfer der gambizzazioni – in die Beine (gambe) schießen, so nennen die Brigadisten ihre Einschüchterungsmethode – sind Richter, Unternehmer, Universitätsprofessoren, Gefängnisaufseher, Journalisten. Der Klassenfeind soll in permanenter Angst leben.

Der »historische Kompromiss« galt vor diesem Hintergrund vielen seiner Verfechter nicht nur als Chance, das Land politisch und wirtschaftlich zu stabilisieren, sie betrachteten ihn auch unter Aspekten der inneren Sicherheit: Durch die Beteiligung der Kommunisten an der Regierung des Landes hatte man gehofft, die Straßen, die Universitäten und die Fabriken zu befrieden.

Die Roten Brigaden fürchteten den Bürgerkrieg nicht, im Gegenteil, sie wollten ihn herbeiführen. Obwohl sie nicht an der Bewegung von 1977 be­teiligt waren, wussten sie, dass große Teile der außerparlamentarischen Linken in jenen Jahren sie höchstens ansahen als »Genossen, die sich irren«. Auf die Frage nach der Reaktion der BR auf die großen, parteiüber­greifenden Demonstrationen, die Moros Befreiung forderten, antwortet Gallinari nüchtern: »Keine besondere Reaktion. Wir wussten, dass viele Genossen nach der Entführung auf uns angestoßen hatten, obwohl sie keine Mitglieder des bewaffneten Kampfes waren. Insofern waren wir zuversichtlich.«

Moros Projekt war auch eines der den BR wie auch einem Großteil der Autonomia verhassten PCI, es sollte mit allen Mitteln bekämpft werden. Mit ihrem »Angriff auf das Herz des Staates« wollte die »bewaffnete Partei« aber nicht nur die Bildung einer Regierung verhindern. »Wir wollten einen langfristigen Krieg mit dem Ziel der Machtergreifung einleiten«, sagt Gallinari, »die erste Phase bestand in einen direkten Angriff auf die wichtigste Partei des Nachkriegsregimes in Italien.«