40 Jahre nach der Entführung und Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden in Italien sind Verschwörungstheorien über den Fall weiterhin verbreitet

Die unbequeme Geisel

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Der Fall Moro und der Kalte Krieg

Der damalige italienische Innenminister, Moros Parteifreund Francesco Cossiga, installierte während der 55 Tagen der Entführung ein »operatives Krisensystem«, über dessen Mitglieder später bekannt wurde, dass sie der Freimaurer­loge »Propaganda 2« (P2) angehörten.

Noch sehr undurchsichtig bleiben die Umstände, die zur Aufdeckung einer konspirativen Wohnung der BR in der Via Gradoli 96 in Rom führten. Jahre später wird sich herausstellen, dass mehrere Wohnungen in diesem Haus, sowie in anderen Häusern in derselben Straße, von Mitarbeitern der Geheimdienste benutzt worden waren. Warum in dieser Wohnung die Entführung problemlos vorbereitet werden konnte, ist in der Tat bis heute ungeklärt.

Weitere vermeintliche Enthüllungen, die rund um die Jahrestage gerne als bahnbrechend präsentiert werden, beleuchten zwar Details, werfen aber kein wirklich neues Licht auf den Verlauf der Entführung, und noch weniger auf deren politischen Hintergrund.

So etwa die Aussagen von Steve Pieczenik, der damals als stellvertretender Staatssekretär des US-Außenministeriums nach Rom geschickt wurde, um Innenminister Cossiga in dem Fall persönlich zu beraten. Es sei darum gegangen, »eine Strategie zu finden, um Italien zu stabilisieren und den Kollaps der Christdemokratischen Partei zu verhindern«, erzählte Pieczenik in einem anonymisierten TV-Interview ­zuletzt am 18. März. »Anders gesagt: zu verhindern, dass die Kommunisten an die Macht kommen.« Pieczenik deutet an keiner Stelle an, dass die Initiative, Moro zu entführen, von der US-Regierung kam, vielmehr nennt er in Hinblick auf die Lage Italiens in den siebziger Jahren ein übergeordnetes politisches Ziel, das für den gesamten südeuropäischen Raum galt. Zum ersten Mal war in einem Nato-Land die Kommunistische Partei kurz davor, sich an einer Regierung zu beteiligen, wenn auch indirekt, durch das Vertrauensvotum. Dass die westlichen Mächte im Kalten Krieg dies für einen bedrohlichen Destabilisierungsfaktor hielten, kann niemand ernsthaft als Enthüllung werten, es ist eine historische Wahrheit. Die Frage also, warum die USA in der Lösung des Falls Moro eine Rolle spielten, ist alles andere als ungeklärt.

 

Warum musste Moro sterben?

Warum aber sollte diese Lösung lauten, wie sich ziemlich schnell herausstellte, »Aldo Moro zu opfern«? Die Antwort hierauf ist politisch. Außerhalb des »Volksgefängnisses« gab es viele Kräfte, die kein Interesse daran hatten, dass Moro freikommt. Er war für die italienische sowie für die internationale Politik eine unbequeme Figur.

 

»Ist es möglich, dass Ihr alle meinen Tod wollt, aus vorgeschobener Staatsräson, als wäre das die Lösung aller Probleme in diesem Land? Von wegen Lösung. Wird dieses Verbrechen begangen, wird sich eine furchtbare Spirale eröffnen, die Euch mitreißen wird. (…) Mein Blut wird über Euch kommen« Aldo Moro, Brief an den Generalsekretär der Democrazia Cristiana, Benigno Zaccagnini, 20. März 1978.

 

In der »Öffnung nach links«, wie der »historische Kompromiss« im Westen gedeutet wurde, sah nicht nur der Westen eine Gefahr. Auch in Moskau hielt man wenig von der Idee, dass die stärkste Kommunistiche Partei im Westen sich vom sowjetischen Bruder emanzipierte. Moros und Berlinguers Projekt widersprach der Logik des ­Kalten Krieges, dafür war rund ein Jahrzehnt vor dem Fall der Berliner Mauer, im Westen wie im Osten, schlicht niemand bereit.

Als Vorsitzender einer Partei, die seit der Gründung der Italienischen Republik 1948 ununterbrochen regiert hatte, konnte Moro, der seit 1946 Justizminister, Außenminister, Generalsekretär der DC und fünfmal Ministerpräsident gewesen war, vielen im Establishment gefährlich werden: Er hatte einen tiefen Einblick in die Machtstrukturen des italienischen Staates – was das bedeutete, wurde erst in den neunziger Jahren deutlich, als das gesamte Parteiensystem der »ersten Republik« durch Prozesse wegen Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteifinanzierung hinweggefegt wurde. Als Moro andeutete, von diesem Wissen Gebrauch zu machen, um zu überleben, nahm die Entführung eine entscheidende Wende.

Moro war von Anfang an keine schweigende Geisel. In 55 Tagen schrieb er insgesamt 86 Briefe an seine Familie, an Parteifreunde, an Journalisten, den UN-Generalsekretär und Papst Paul VI. Darin flehte er inständig, eine Lösung für seine Befreiung zu finden. Als die BR nach dem Ende des »Volksprozesses« einen Gefangenenaustausch forderten, appellierte er verzweifelt in alle Richtungen, gegen politische Gefangene ausgetauscht zu werden. Doch nichts passierte.

Es war die »Linie der Härte« – keine Verhandlungen mit den Terroristen, koste es, was es wolle –, von der Christdemokraten, Kommunisten und sonstige Staatsapparate keinen Millimeter abwichen. Diese Unnachgiebigkeit überraschte vor allem die Entführer selbst: »Mit jedem Brief, jedem Kommuniqué, jedem Telefonat mit der Familie hofften wir, etwas in Bewegung zu setzen«, so Valerio Morucci, »wir wussten damals nicht, dass nichts zu bewegen war.«

Die Entscheidung, Moro zu erschießen, soll am 8. Mai gefallen sein. Die Todesangst der Geisel war allerdings bereits in seinen Briefen kurz nach der Entführung zu spüren. Der Ton wurde immer verzweifelter, anklagender, vor allem gegen seine Partei, als er feststellte, dass niemand Interesse an seiner Befreiung zu haben schien.

»Ist es möglich, dass Ihr alle meinen Tod wollt, aus vorgeschobener Staatsräson, als wäre das die Lösung aller Probleme in diesem Land? Von wegen Lösung. Wird dieses Verbrechen begangen, wird sich eine furchtbare Spirale eröffnen, die Euch mitreißen wird. (…) Mein Blut wird über Euch kommen«, hieß es in dem Brief an den Generalsekretär der Democrazia Cristiana, Benigno Zaccagnini, vom 20. März 1978.

 

Den BR hätte am Ende eine symbolische Geste gereicht: Ein ranghohes Mitglied der Christdemokratie sollte öffentlich die Bereitschaft erklären, über die Forderungen der Roten Brigaden nachzudenken, sofern sich diese Forderungen im Bereich des Legalen bewegten.

 

Neun Tage später schrieb Moro in einem Brief an Innenminister Francesco Cossiga: »Die Staatsraison bedeutet in meinem Fall, dass ich mich in ­einer vollständigen und unkontrollierten Gewalt befinde, mir ein Volksprozess gemacht wird (…) und da ich bei vollem Verstand und voller Gesundheit bin, das Risiko besteht, dass ich auf unangenehme oder auf gefährliche Weise zum Reden gezwungen werde könnte (…) Gott möge Euch erleuchten … «

Dazu nochmal Pieczenik: »Es wurde klar, dass Moro eine Bedrohung geworden und nicht jemand war, der als noch zu retten galt.« Dem 2010 gestorbenen Cossiga will er geraten haben, öffentlich zu behaupten, die Briefe seien gefälscht, Moro habe sie unter dem Einfluss von Drogen geschrieben: »Es war notwendig, die Geisel zu diskreditieren.« Auch dass der Vatikan angeblich mehrere Millionen Lire bereit hielt, um Moro freizukaufen, will Pieczenik gewusst haben, auch davon habe er Cossiga abgeraten: »Wir waren dabei, alle Kanäle zu schließen, die zur Befreiung der Geisel hätten führen können. Es ging nicht um die Person Aldo Moro, auf dem Spiel stand die Destabilisierung Italiens.«