Eine Kritik des Thesenpapiers der Linkspartei zur Migrationspolitik

Regulieren ist nichts links

Die Linkspartei ringt um eine Position in der Migrationspolitik. Ein Thesenpapier formuliert nun die vermeintliche Lösung: Mehr Nation wagen. Das ist keine linke Position.

Über eine Million Menschen haben im Jahr 2015 europäische Grenzsperren überwunden und damit einen politischen Konflikt um die Neukonfigura­tion von Demokratie, Partizipation und globalen sozialen Rechten jenseits des Nationalstaats ausgelöst. Unabhängig von staatlicher Infrastruktur entwickelte sich zur selben Zeit die Solidaritätsbewegung der sogenannten Willkommenskultur. Eine gesellschaftliche Situation entstand, in der nicht nur Aufnahme und Zuflucht, sondern auch Wohnungen, Bildung, Zugang zu medizinischer Versorgung und das Recht zu arbeiten gefordert wurden.

Die gesellschaftspolitisch interessierte Verzerrung dieses neuen sozialen Bewegungszyklus zur »Flüchtlingskrise« stellte die diskursive Legitimationsgrundlage für die Reaktion des deutschen Staates dar. Gekennzeichnet ist diese durch die verstärkte Abriegelung der Grenzen, die Entrechtung spezifischer Gruppen von Geflüchteten und Migranten durch Sonderregelungen sowie eine Ausweitung der Abschiebepraxis. Dieser Prozess wird von einer neuen Mobilisierung von rechts angetrieben.

Das nun von einigen Politikerinnen und Politikern der Linkspartei vorgelegte »Thesenpapier zu einer human und sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik« enthält gegen diese Praktiken keinerlei Widerspruch oder gar explizite Kritik. Es versucht erst gar nicht, eine andere Position zu Migration zu entwickeln. Die Unterzeichner wenden lediglich die Politik der Bundesregierung rhetorisch auf links. Sie entwickeln einen zwiespältigen Politikvorschlag, um von »links« eine national orientierte, liberale und sicherheitspolitische Regulation von Mobilität und Migration zu fordern. Dabei entleert das Thesenpapier die politische Herausforderung der Migration ihres demokratischen Gehalts sowie ihrer egalitären politischen Stoßrichtung für eine gesellschaftliche Linke und solidarische Visionen. Wer diese Sichtweise in Frage stellt, wird darin polemisch als »kurzschlüssig und weltfremd« bezeichnet.

Nach öffentlich ausgetragenen Machtkämpfen innerhalb der Linkspartei gibt das Thesenpapier nun eine weitere Interpretation der Behauptung  zum Besten, wonach auf einen vorgeblichen Kontrollverlust eine Ausweitung exekutiver Befugnisse folge.

Grenzkontrollen seien nicht per se gewaltsam oder menschenfeindlich. Die Bedrohung durch organisierte Kriminalität und Terrorismus wird hervorgehoben, internationaler Datenaustausch wird gefordert. Das könnte so auch im Protokoll jeder Innenministerkonferenz stehen. Der linke Beitrag zum Ausbau des Grenzregimes ist die Kontrolle von Kapital, Waren und Dienstleistungen.

Der Rückfall in politische Zeiten der Nationalstaats- und Grenzordnung in der Tradition des Westfälischen Friedens ist Programm. Der Nationalstaat ist durchgängiger und einziger Bezugspunkt für die im Thesenpapier skizzierte Politik. Dass Migrations- und Grenzpolitik in der EU seit 1999 europäisiert wurden, scheint vergessen.

Es handelt sich nicht mehr nur um einen unreflektierten methodologischen Nationalismus, es ist vielmehr die Besinnung auf den Nationalstaat als politisches Programm. Das Thesenpapier analysiert die Welt als Summe von Nationalstaaten. Den Arbeitsmarkt gilt es im Norden zu schützen, seine nachholende Entwicklung im Süden gilt es zu fördern. Das linke Lob der Grenze ist angesichts derart reduktionistischer Grundannahmen konsequent. Gleichzeitig ist es aber auch eine präzise Zusammenfassung des Elends der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert, die sich vom national verfassten Sozialstaat nicht lösen will und die globale Gerechtigkeit nicht transnational oder transversal denken kann. Globalisierung gerecht gestalten, kann sich so nur in ein Programm von »more borders« transformieren.

Ist der nationalstaatliche Container der einzige Referenzrahmen für (linke) Politik, so kann Migration immer nur als Abweichung, als störendes Element, als potentielle Quelle »schwerwiegender Konflikte« (Seite 6), als Schwächung der nationalen Arbeiterklasse (Seite 5) oder als Komplott von Seiten des Kapitals verstanden werden. Auch die individuellen Motive für Migration werden reduktionistisch analysiert. Entweder es gibt einen Zwang zu gehen, oder es geht darum, »lediglich ein höheres Einkommen (zu) erzielen oder einen besseren Lebensstandard genießen zu wollen« (Seite 2). Ersteres wird als le­gitim erachtet, Letzteres nicht.

 

Darüber ist die antirassistische Bewegung längst hinweg. Es darf kein Zurückfallen hinter die Errungenschaften von antirassistischen, feministischen und postkolonialen sozialen Kämpfen geben. Migration und die Wanderung von Arbeitskräften sind kein Problem für ein emanzipatorisches Gesellschafts­projekt, sondern die Bedingung von Arbeiten, Leben und einer neuen Solidarität als Alternative zum antidemokratischen und autoritärem Elitenprojekt des Rechtspopulismus.

Dies ist jedoch mit dem Thesenpapier nicht zu haben. Mit Hilfe eines Kniffs leitet das Thesenpapier ab, dass die Regulierung der Migration ­alternativlos sei (Seite 4). Die Rede von der Regulierung ist jedoch eine Feindin der Demokratie. Die Sprache der Migrationspolitik ist voll von scheinbar sanften Begriffen wie Regulierung, Governance, Steuerung etc. Diese Begriffe verschleiern, dass es sich immer um Projekte der Herrschaft, der sozialen Kontrolle und der Entrechtung handelt. Gemein ist ihnen die Problematisierung der Migration als soziales Phänomen. Das Thesenpapier reiht sich mühelos in diese Projekte ein. Auf Grundlage der als realpolitischer Sachzwang deklarierten Privilegien und Interessen europäischer Staatsbürger und Staaten propagiert es die neue – und gleichzeitig alte – Konjunktur einer institutionell und strukturell rassistischen Arbeitsteilung.

Die Autorinnen und Autoren kommen allerdings auch nicht ganz ohne Migration aus. Diese wird von ihnen der sozialen Kontrollfähigkeit halber in administrative Zwischengruppen mit unterschiedlichen Rechten eingeteilt: in »ökonomische Migrantinnen« und über Asylpolitik regulierte Kontingentflüchtlinge. Diese Trennung entspricht nicht der Realität der Einwanderung. Nur wer eine größtmögliche Distanz zwischen sozialer Frage und Migrationsfrage aufrechterhalten will, benötigt die Aufteilung in legitime und illegitime Migration. Worüber im Thesenpapier übrigens nicht geschrieben wird, ist die hässliche Frage der Abschiebungen.

Die Linkspartei hat wie die Sozialdemokratie realpolitische Probleme, die in den 30 Jahren des neoliberalen Kapitalismus und dem national-wohlfahrtsstaatlichem Klassenkompromiss begründet liegen. Die Schuld daran trägt freilich nicht die Migration. Wir sind alle Kanaken. Deshalb sollten ­Migrantinnen und Migranten auch nicht den Preis für diese Krise zahlen. Es wäre den Verfassern des Papiers zu wünschen, dass sie die frohe Botschaft der schon längst bestehenden post­migrantischen Gesellschaft hörten. Denn eine linke Einwanderungspolitik, die sich nicht an den Erfahrungen, an den Kämpfen, an den Errungenschaften und an der Geschichte der Migration orientiert, kann weder links noch Politik sein.

 

Ceren Türkmen arbeitet als Soziologin und ist Aktivistin in migrantischen Selbstorganistionen.

Bernd Kasparek arbeitet als Migrationsforscher und Aktivist zum Thema Grenzregime.