Das Iranabkommen kann die nuklearen Ambitionen des iranischen Regimes nicht aufhalten

Die Geheimnisse der Ayatollahs

Die diskrete Diplomatie, mit der das Atomabkommen mit dem Iran ausgehandelt wurde, ist an Grenzen gestoßen. Die nuklearen Ambitionen des Regimes lassen sich weder durch einen Ausstieg noch durch ein stures Festhalten an der Vereinbarung stoppen.

Gegen Ende der Frist, die US-Präsident Donald Trump sich für eine Entscheidung über den Ausstieg der USA aus dem Wiener Atomabkommen Joint Com­prehensive Plan of Action (JCPOA) gesetzt hatte, überschlugen sich die ­Ereignisse. Der französische Präsident Emmanuel Macron, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der britische Außenminister Boris Johnson reisten nach Washington, um den JCPOA noch zu retten. Irans Präsident Hassan Rohani drohte, die USA würden einen Ausstieg aus dem Abkommen »historisch« bereuen.

Am 30. April präsentierte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ein iranisches »Atomarchiv«, das der Mossad vor einigen Monaten in Teheran erbeutet habe. Über 100 000 aus dem Iran geschmuggelte Dokumente, je zur Hälfte in Aktenordnern und auf CDs, würden beweisen, was der Iran stets bestritten hat: die Existenz eines klandestinen Atomwaffenprogramms unter dem Titel »Projekt Amad« in den Jahren 1999 bis 2003. Selbst nach der Unterzeichnung des JCPOA habe sich der Iran geweigert, mit dieser Vergangenheit reinen Tisch zu machen. Das iranische Regime lüge, resümierte Netanyahu, und das Abkommen sei auf Täuschung aufgebaut. Die Konsequenzen überließ er Trump.

Der verkündete am 8. Mai den Rückzug der USA aus dem JCPOA. Die US-Regierung werde in einem Zeitraum von drei bis sechs Monaten alle früheren Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen den Iran reaktivieren und möglicherweise durch zusätzliche Maßnahmen ergänzen. Unternehmen, die in diesem Zeitraum ihre Geschäfte mit dem Iran nicht deutlich einschränken, werden ernste Konsequenzen angedroht. Der neue US-Botschafter in Berlin, Richard Grenell, twitterte umgehend: »Deutsche Unternehmen, die im Iran Geschäfte machen, sollten ihre Operationen sofort herunterfahren.«

Die Regierungen Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens sowie die EU-Kommission bedauerten die Entscheidung Trumps und erklärten, den JCPOA weiter einhalten zu wollen, solange der Iran sich ebenfalls ­daran halte. Russland und China verurteilten die USA routinemäßig. Unterstützung erhielt Trump von Israel und Saudi-Arabien.

Die ersten umfassenderen Informationen über ein iranisches Atomwaffenprogramm erhielt nicht die CIA, nicht der Mossad, sondern der Bundesnachrichten­dienst im Jahr 2004.

»Wir haben statt eines Abkommens mit sechs Staaten nun eines mit fünf«, sagte Rohani. Sein weiteres Vorgehen macht er von Abstimmungen mit den verbliebenen Partnern abhängig. Sollte die iranische Regierung keine wirtschaftlichen Vorteile aus dem JCPOA mehr ziehen, sieht sie sich nicht mehr daran gebunden und will die Urananreicherung in vollem Umfang wieder aufnehmen.

Auch der frühere US-Präsident Barack Obama gab als Initiator und entschiedener Unterstützer des JCPOA eine Stellungnahme ab. Er sagte, es sei ein ernster Fehler, »das Atomabkommen zu riskieren, ohne dass es einen iranischen Verstoß gegen den Deal gibt«. Tatsächlich hat die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) dem Iran in den vergangenen zwei Jahren regelmäßig vertragskonformes Verhalten bescheinigt.

Die fast einhellige internationale Kritik trifft also die USA. Das ist umso absurder, wenn man der Einschätzung zustimmt, dass sich das iranische Regime nicht wirklich von seinen nuklearen Ambitionen verabschiedet hat.

Wenn diese Einschätzung nämlich richtig ist, muss es zwangsläufig iranische Verstöße gegen das Abkommen geben. Dann muss man die nötige Intelligenz und gegebenenfalls auch die nötige Geduld aufbringen, um diese zu erkennen, aufzuzeichnen und zu beweisen. An beidem mangelt es der gegenwärtigen US-Regierung und ihrem Präsidenten. Dass ihnen die IAEA widerspricht, kümmert sie nicht. Leichtfertig verspielen sie die Glaubwürdigkeit der Kritik an den Unzulänglichkeiten des JCPOA.

 

Obama wiederum ist weit entfernt von einer Reflexion darüber, warum sein vermeintliches Jahrhundertwerk zur Stabilisierung des Nahen Ostens schon nach zwei Jahren gescheitert ist. Haben die Aushandler des JCPOA etwas falsch gemacht und wenn ja, was? Diese Frage ist für die Zukunft des Abkommens entscheidend. Weiterzumachen wie bisher, nur eben ohne die USA, wird noch schlechter funktionieren.

Politik ohne Fehler gibt es nicht. Alle Unterzeichner des JCPOA haben zu seiner Unterminierung beigetragen.

Obama spekulierte öffentlich mit dem baldigen Ableben des betagten iranischen Staatsoberhaupts Ali Khamenei. Rohani und sein Außenminister Javad Zarif rühmten sich, mit ihren Verhandlungskünsten die gleichen Ziele verfolgt zu haben wie die iranischen Hardliner, nur eben erfolgreicher. Der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel warb sofort nach Abschluss des Abkommens in Teheran um Aufträge für die deutsche Wirtschaft, womit er den Iranern und der Welt die Käuflichkeit der deutschen Politik signalisierte.

Das Konzept des JCPOA wird durch solche Dummheiten nicht widerlegt. Anders verhält es sich mit dem Thema, das Netanyahu in seiner Fernsehpräsentation auf die Tagesordnung gesetzt hat. Mit sicherem Instinkt hat er auf einen zentralen Schwachpunkt des Wiener Abkommens hingewiesen. Der ­JCPOA sah ursprünglich vor, dass die Frage militärischer Implikationen des iranischen Atomprogramms abschließend geklärt werden müsse. Das war eine Bedingung für das Inkrafttreten des Vertrags. Doch der iranische Oberste Führer Khamenei forderte ultimativ, das Gerede von den »möglichen militärischen Dimensionen« müsse aufhören; andernfalls werde es keine iranische Unterschrift unter die Vereinbarung geben. Er setzte sich durch. Der Widerspruch wurde in Wien mit größtmöglichem Fingerspitzengefühl wegverhandelt. Es ist müßig, die einzelnen Wendungen nachzuzeichnen – was zählt, ist das Resultat. Man blieb bei der bequemen Formel, nuklearmilitärische Ambitionen des Irans seien »umstritten«.

Der spektakuläre Diebstahl des iranischen Atom­archivs durch den Mossad gefährdet dieses stille Einvernehmen und stellt die Islamische Republik bloß. Iranische Politiker reagierten mit hef­tigen Wutausbrüchen und Beleidigungen. Aber auch außerhalb des Landes erntete Netanyahu abwehrende, teilweise scharfe Reaktionen. Sein Auftritt sei merkwürdig, seltsam, bizarr gewesen, ein »Täuschungsmanöver« (Norbert Röttgen, CDU), eine »Geheimdienst-Show« (Jürgen Trittin, Die Grünen).

Denn Netanyahu habe bloß alte Geschichten aufgewärmt. Im Gleichklang versichern die Befürworter des JCPOA, der israelische Ministerpräsident habe ihnen keine Neuigkeiten präsentiert. Das alles sei bereits bekannt und eben diese Kenntnisse seien der triftigste Grund dafür gewesen, das Wiener Abkommen auszuhandeln. Wenn das so ist, stellt sich die Frage, warum sie dieses Wissen partout für sich behalten wollten. Hat man die Außenminister der USA und der EU-Staaten oder gar Russlands je über ein Projekt Amad reden hören? Im Gegenteil, wer das Thema aufbringen wollte wie etwa die Kampagne »Stop the Bomb«, wurde rasch als Israel-Freund, Falke, womöglich sogar als Kriegstreiber eingestuft, dessen Argumente man nicht ernst nehmen müsse.

Besonders unverfroren war in diesem Kontext die Politik der vergangenen fünf Bundesregierungen. Denn die ersten umfassenderen Informationen über ein relevantes iranisches Atomwaffenprogramm erhielt nicht die CIA, nicht der Mossad oder der MI6, sondern der Bundesnachrichtendienst im Jahr 2004. Die deutschen Regierungen haben sich nie dazu geäußert. Allenfalls mahnten sie den Iran gelegentlich, er müsse mehr tun, um die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entkräften. Dabei waren sie im Besitz von Belegen für eben diese Vorwürfe. 14 Jahre nach Erhalt jener Unterlagen ist noch immer nicht bekannt, wie sie von den deutschen Politikern bewertet wurden, geschweige denn, was sie enthalten.

Die gesichtswahrende Diplomatie des JCPOA ist an ihre Grenzen gestoßen. So kann man einen Staat, dem weiterhin zu misstrauen ist, nicht davon abhalten, ein eingefrorenes Atomwaffenprogramm zu einem ihm genehmen Zeitpunkt wiederaufzunehmen.

Dass es ein solches Programm gab, ist daher auch für die Zukunft von Bedeutung. Zunächst wäre wünschenswert, dass Israel das erbeutete iranische Atomarchiv ins Netz stellt, um alle ­damit verbundenen Spekulationen zu beenden. Das hätte Folgen. Zwar wurde das Projekt Amad nach den vorlie­genden Informationen vor den Wiener Verhandlungen beendet, weshalb es keinen direkten Verstoß gegen den JCPOA darstellt. Aber es war ein klarer Bruch des Atomwaffensperrvertrags (NPT). Daher stellt sich die Frage, ob Unternehmen mit ihren Wirtschaftsbeziehungen zu iranischen Partnern wissentlich oder unwissentlich, direkt oder indirekt zum Unterlaufen des NPT beigetragen haben. Es müssten also unter anderem alle deutsch-iranischen Projekte, alle Liefer- und Serviceverträge überprüft werden.

Wenn die fünf verbliebenen Länder die Wiener Vereinbarung erhalten wollen, müssen sie anders damit umgehen: konfrontativ, rücksichtslos, ­öffentlichkeitswirksam. Hat der Iran vielleicht noch mehr zu verbergen als ein Archiv, das den Revolutionsgarden zur Aufbewahrung überlassen wurde? Das wird man nicht herausfinden, wenn man es gar nicht wissen will.