Bei den Gaza-Protesten gegen Israel kalkulierte die Hamas mit vielen Toten

Punktsieg für die Hamas

Die Proteste im Gaza-Streifen gegen Israel endeten am 14. Mai mit mehr als 60 toten Palästinensern. Nun steht Israel wieder am Pranger der Weltöffentlichkeit. Die Hamas hatte die Toten offenbar einkalkuliert.

Mission erfüllt! Genau das kann die Hamas-Führung verkünden und sich selbst auf die Schultern klopfen. Denn alle Welt redet wieder über die Palästinenser – zumindest jene im Gaza-Streifen. Der Preis: insgesamt rund 110 Tote sowie Tausende Verletzte. Genaue Zahlen lassen sich kaum ermitteln und die palästinensischen Angaben sind mit Vorsicht zu genießen. So werden in ihren Statistiken auch solche Personen als »Opfer« gelistet, die wie sechs junge Männer Anfang Mai bei »Arbeitsunfällen« umkamen: dem Hantieren mit Sprengstoff. Trauriger Höhepunkt der Ende März unter dem Motto »Marsch der Rückkehr« begonnenen wöchentlichen Demonstrationen im Grenzgebiet zu Israel war zweifelsohne der 14. Mai mit 62 Toten und vermutlich über 2 000 Verletzten. Das Datum selbst hat große symbolische Bedeutung – schließlich war vor 70 Jahren an genau diesem Tag Israel gegründet worden. Der Folgetag wird seither als palästinensischer Trauertag »a-Nakba« begangen.

Nun steht der jüdische Staat wieder am Pranger der Weltöffentlichkeit. So beschloss am 18. Mai der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, eine Kommission zu entsenden, um die jüngsten Ereignisse an Ort und Stelle zu untersuchen.

Zeid Ra’ad al-Hussein, der UN-Kommissar für Menschenrechte, warf Israel vor, »unverhältnismäßig« gehandelt zu haben, als dessen Armee scharf auf protestierende Pa­lästinenser am Grenzzaum schoss, und beklagte das Schicksal der »hinter Zäunen eingepferchten Palästinenser«. 29 Staaten hatten für die Entsendung der Kommission gestimmt, nur zwei dagegen, die USA und Australien. Deutschland sowie 13 weitere Länder enthielten sich ihrer Stimme. Israel ist nicht Mitglied im Menschenrechtsrat und Ministerpräsident Benjamin Netanyahu bezeichnete die Entscheidung als »irrelevant« und »verlogen«.

Besonders schrille Töne waren von der türkischen Regierung zu hören. »Das, was Israel macht, ist ein Genozid«, sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Der Ministerpräsident Binali Yıldırım attestierte der israelischen Regierung, »Hitler und Mussolini« nachzuahmen. Doch es blieb nicht bei Verbalattacken. Erdoğan lud zum Sondergipfel der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) ein, um über Maßnahmen gegen Israel zu diskutieren. Für den türkischen Präsidenten waren die Ereig­nisse in Gaza eine wunderbare Gelegenheit, sich außenpolitisch weiter zu profilieren.

»In der letzten Runde der Konfrontation waren unter den 62 Märtyrern allein 50 Aktivisten von uns.« Salah Bardawil, Hamas

Zugleich berief Erdoğan den türkischen Botschafter aus Israel ab und verwies den israelischen Vertreter des Landes – aber nicht ohne vorherige ­öffentliche Demütigung: Vor laufenden Kameras musste Botschafter Eitan Na’eh am Flughafen einen peinlichen Sicherheitscheck von türkischen Beamte über sich ergehen lassen. Wie auf­geheizt die Stimmung in der Türkei derzeit ist, bekam am Mittwoch vergan­gener Woche auch ein Filmteam des ­israelischen Nachrichtensenders Hadashot zu spüren. Als es über eine Demonstration auf dem Taksim-Platz in Istanbul berichten wollte, wurden

Reporter und Kameramann von aufgebrachten Demonstrierenden an­gegriffen und zusammengeschlagen.
Die Hamas kann den 14. Mai zweifels­ohne als Punktsieg für sich verbuchen – nicht zuletzt wegen der vielen Proteste gegen die Eröffnungszere­monie der US-amerikanischen Botschaft in Jerusalem am selben Tag.

 

Je höher die Zahl der Toten, desto mehr Aufmerksamkeit ist der Hamas sicher. Der Umstand, dass die Palästinenser
so viele Opfer zu beklagen hatten, während auf israelischer Seite außer einem verletzten Soldaten niemand zu Schaden kam, ließ in den internationalen Medien immer wieder die Frage auf­kom­men, ob Israel nicht anders hätte reagieren können. Sogar in einigen arabischen und mehrheitlich mus­limi­schen Ländern, wo das Interesse an den Palästinensern in jüngster Zeit merk­lich abgekühlt war, gab es wieder Solidaritätsdemonstrationen – wenn auch wie im Falle des Iran vom Staat angeordnet. Nach der Verantwortung der Hamas wurde dagegen selten gefragt.

Die hatte die Toten offenbar einkalkuliert. Es handelte sich bei ihnen keineswegs nur um Zivilisten, wie gerne behauptet. »In der letzten Runde der Konfrontation waren unter den 62 Märtyrern allein 50 Aktivisten von uns«, sagte am 16. Mai der Hamas-Vertreter Salah ­Bardawil im palästinensischen Fernsehen. Drei Tage zuvor hatte Mahmoud ­al-Zahar, einer der Gründer der Hamas, al-Jazeera bereits offenbart: »Wenn ­wir über ›friedlichen Widerstand‹ reden, führen wir die Öffentlichkeit in die Irre.« Bereits am 6. April, zu Beginn der wöchentlichen Ausschreitungen, hatte Yahya Sinwar, der Anführer der Hamas in Gaza, angekündigt: »Wir werden die Grenze zu Fall bringen und ihnen die Herzen aus den Leibern reißen.« Fried­licher Protest klingt anders. Schließlich war es die Hamas, die den Transport so vieler Menschen wie möglich an den Grenzzaun organisiert hatte, und nicht irgendeine NGO. »Man darf der Hamas nur dann trauen, wenn sie ihre eigenen Lügen zugeben«, lautete dazu der Kommentar von Israels Armeesprecher Ronen Manelis im Wall Street Journal. Auf den wiederholten Vorwurf, Israel habe unverhältnismäßig gehandelt, reagierte der nicht gerade für ­sei­ne Sympathien für Netanyahu bekannte Kolumnist Eric Yoffie in ­Haaretz mit der Frage: »Wenn man die Zahl der Toten in Gaza ›unverhältnismäßig‹ nennt, wie viele Israelis müssen dann im Namen der Verhältnismäßigkeit eigentlich erst sterben?«

In Israel selbst stieß das Vorgehen der Armee auf verhältnismäßig wenig Kritik. Zu einer am 15. Mai in Tel Aviv von linken Gruppen organisierten Protestdemonstration kamen gerade einmal ein paar Hundert Personen. Allenfalls wurden Vorwürfe laut, Israel lasse sich mit seinen Maßnahmen zu sehr auf das Spiel der Hamas ein, indem man den Islamisten bei der Produktion von Märtyrern behilflich sei. NGOs wie B’Tselem und Breaking the Silence, die ohnehin die Politik Israels verurteilen, skandalisierten bereits zu Beginn der palästinensischen Proteste den Einsatz von scharfer Munition.

Dennoch eskalierten die palästinensischen Proteste nicht zu einem handfesten Krieg. Den könnte sich die Hamas auch kaum leisten. Schließlich ist die Wirtschaft im Gaza-Streifen völlig am Boden. Die Arbeitslosigkeit dürfte bei 70 Prozent liegen und die islamistische Organisation steht vor der Pleite. Unterstützung erhält die Hamas allenfalls noch aus dem Iran. Soziale Unruhen wären also nur eine Frage der Zeit. Aus diesem Grund hält sie die Auseinandersetzung mit Israel eher auf kleiner Flamme und setzt auf die Mobilisierungs- und Solidarisierungseffekte. Gerade Letztere gewinnen an Bedeutung, weil der 83jährige Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas von der verfeindeten al-Fatah gesundheitlich sehr angeschlagen ist. Innerhalb weniger Tage musste er zum dritten Mal ins Krankenhaus. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis ein Nachfolger bestimmt werden muss. In dem Machtkampf, der dann mit hoher Wahrscheinlichkeit zwischen den einzelnen Fraktionen aus­brechen wird, möchte die Hamas mitmischen.

Zudem gibt es Gerüchte, dass die Hamas die Möglichkeiten eines längerfristigen Waffenstillstands mit Israel sondiert. Das jedenfalls wurde aus is­raelischen Sicherheitskreisen bekannt. Über das Pro und Contra eines Austauschs der sterblichen Überreste zweier getöteter israelischer Soldaten, die sich ebenso wie zwei israelische Geiseln in der Hand der Hamas befinden, gegen palästinensische Gefangene als einem ersten Schritt soll bereits ein hef­tiger Streit entbrannt sein. Sinwar ist sehr daran interessiert, Ismail Haniya vom Politbüro der Hamas strikt dagegen. Nach den jüngsten Demonstra­tionen kann man nun behaupten, dass man dem zionistischen Erzfeind noch einmal ordentlich die Stirn geboten habe und nicht einfach so Verhandlungen aufnehme – es geht also womöglich darum, das Gesicht zu wahren.

Als Vermittler eines solchen Abkommens scheint Ägyptens Präsident Abd al-Fattah al-Sisi bereits tätig zu sein. Er hatte für den Zeitraum des islamischen Fastenmonats Ramadan die Grenze zum Gaza-Streifen wieder öffnen lassen. Die Bedingung: Die Palästinenser sollen die wöchentlichen Proteste been­den. In der Tat war es am Freitag vergangener Woche im Grenzgebiet zu Israel verhältnismäßig ruhig geblieben. Statt 40 000 Demonstrierender, wie am Freitag zuvor, hatten sich nur einige Tausend Menschen dort versammelt. Dabei hatte Haniya vehement bestritten, dass es eine solche Vereinbarung mit Ägypten gebe. »Wir werden alle gehen und ich werde der erste sein, der euch an der Grenze begrüßt«, hatte er noch am selben Tag verkündet. Wer sich in der Hamas am Ende durch­setzen wird, ist offen. Der Ramadan im Gaza-Streifen könnte spannend werden.