Das Solistenensemble Kaleidoskop

Es lebe die Musik!

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Und in der Tat ist es die Gefahr des Scheiterns, die Kaleidoskop immer wieder eingeht, die seinen Interpretationen die besondere Innenspannung verleiht. Selbst eine schiefgegangene Interpretation kann leben­digere Erfahrung ermöglichen als all die fix und fertigen Konfektions­artikel, die klingen »wie ihre eigene Grammophonplatte« wie Adorno es formulierte. Bei aller Nähe zur kulturindustriellen Spektakelei, in die der performative Umgang mit der Konzertsituation zuweilen gerät, stehen diese Mittel doch immer im Dienst des Hörens.

Das bürgerliche Konzert soll durch die Ausschaltung aller musikfremden Einflüsse die »Sache selbst« unmittelbar zur Geltung bringen. Es rechnet dafür mit der autonomen Subjektivität eines Idealhörers. Die Konzerte von Kaleidoskop rechnen mit uns: regredierten Hörern. Sie ähneln dabei aber keineswegs jenen unverbindlichen Events, bei denen es den Leuten erlaubt ist, umherzuspazieren, beim Cocktail zu net­worken oder ihr immergleiches Grinsen auf Selfies mit dem Hashtag #contemporarymusic zu versehen. Die Verfremdungsbemühungen von Kaleidoskop durchschlagen die scheinhafte Unmittelbarkeit des Konzerts nicht fürs Publikum, sondern für die Musik.

Dass das im Zweifelsfall auf Kosten der Werke gehen kann, liegt in der Natur der Sache. Noch da aber, wo der Versuch scheitert, dem Beziehungslosen eine Liaison mit der Musik zu ermöglichen, wird dieser wenigs­tens auf seine Beziehungslosigkeit gestoßen; und auch diese Erfahrung treibt zur Selbstreflexion.

Am 2. und 3. Juni begibt Kaleidoskop sich im Berliner Radialsystem mit dem Stück »Fort/Da II – Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens: eine melodramatische Etüde« in die theo­retische Auseinandersetzung mit der skizzierten Problematik. Gemeinsam mit dem Theaterkollektiv Copy & ­Waste machen die Musiker Adornos ­Essay zum Ausgangspunkt eines »diskursiven Abends«, der »vielseitig-mehrspurige und schiefe Ebenen« gestalte, um »möglichen Echos und Bedeutungen des Textes zuzuhören und ihn gleichzeitig mit Neuer ­Musik, Popliedern und italienischen Opern­arien zu übertönen«, wie es in der An­kündigung heißt.

Sie wollten Adorno dabei nicht ironisieren, sagt Gervais, sondern den Text in eine Konstellation mit seinen Gegenständen bringen, die sowohl seine Kritik verständlich wie auch die bestimmten Qualitäten der kritisierten Musik erfahrbar machen solle.

Der Vortrag des Textes würde zu diesem Zweck von der »unmittel­baren Emotionalität« von Verdi-Arien wie »Pace, pace, mio Dio« aus »La forza del destino« oder italienischen Schlagern der fünfziger und sechziger Jahre wie Domenico ­Modugnos herzzerreißendem »Piove (ciao, ciao bambina)« kontrapunktiert.

Um von den Verlockungen solcher Musik nichts zu spüren, müsste man wahrlich ein gröberer Klotz sein, als es im Sinne Adornos sein könnte. Aber der musikalische Fetischismus greift auch die leichte Musik an, »nämlich eben gerade darin, dass sie den Genuss, den sie verspricht, gewährt, bloß um ihn zugleich zu verweigern«.

Das Interesse an dem Fetischcharakter-Aufsatz begründet Gervais mit der zwiespältigen Lektüreerfahrung, einerseits seine Kritik nachvollziehen zu können, andererseits selbst ein liebevolles Verhältnis zur darin angegriffenen Musik zu pflegen. Als Fluchtpunkt des Konzepts klingt die Hoffnung an, einen Genuss zu ermöglichen, der frei wäre von jener »Genussfeindschaft im Genuss«, durch die Adorno das musikalische Massenbewusstsein definiert sah.

Wer sich Adornos Kritik verpflichtet fühlt, muss in der Tat mit der his­torischen Situation umgehen, dass kaum jemand mehr mit dem elter­lichen Notenschrank im Pianozimmer aufgewachsen ist, dafür in der Allgegenwart von Popkonserven. Für die tatsächlich avancierte Musik, die Adorno seinerzeit noch ansatzweise als archimedischen Punkt behandeln konnte, »interessiert sich keine Sau«, gibt Gervais nonchalant zu. Wem an dieser Musik etwas liege, dem könne das nicht gleichgültig bleiben. Über die beschränkten Möglichkeiten, die Einzelnen dabei zur Verfügung stehen, macht sie sich gleichwohl keine Illusionen. »Die Musik ist tot«, zitiert sie Helmut Lachenmann und fährt fort: »Wir sind aber Musiker, und wenn die Musik tot ist, dann sind wir auch tot.« Die Entfremdung zwischen Neuer Musik und den Menschen, die sie ihrem Gehalt nach anginge, könne in letzter Instanz nur durch eine »grundlegende politische Antwort« aufgehoben werden, die sich deren gesellschaftlicher Gründe annähme.

Die Regression des Hörens, der Fetischcharakter in der Musik, selbst noch ihr Tod – das Solistenensemble Kaleidoskop begreift sie nicht als zynisch zu registrierende oder narzisstisch abzuwehrende Tatsachen, sondern als künstlerische Aufgaben. »So wenig das regressive Hören ein Symp­tom des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit ist, so jäh vermöchte es doch umzuspringen, wenn jemals Kunst in eins mit der Gesellschaft die Bahn des immer Gleichen verließe«, schrieb Adorno. Zaghaft äußert Gervais die Hoffnung, die Konfrontation der kritischen Theorie unseres Zustands
mit den ästhetischen Objekten, deren Züge er verzerrt, möge »nicht ­didaktisch, sondern künstlerisch in ein Jenseits führen«.

 

Solistenensemble Kaleidoskop: »Fort/Da II – Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens: eine melodramatische Etüde«. 2./3. Juni, Radial­system Berlin