Bernard Harcourt, US-amerikanischer Juraprofessor, im Gespräch über den Überwachungsstaat und die Militarisierung der Polizei

»Protest erscheint als Aufstand, der mit aller Macht unterdrückt werden muss«

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Interview Von

Inwiefern verändert das die heimische Polizeiarbeit und gibt es auch einen personellen Austausch?
Viele von den Männern und Frauen, die in der Aufstandsbekämpfung in ­Afghanistan und im Irak ausgebildet wurden, finden im Anschluss an ihren Dienst im Ausland Anstellung bei der Polizei. Diese übernimmt damit nicht nur die Ausrüstung, sondern auch ­dazugehörige Methoden von der Armee. Es gibt diese Geschichte über einen ­Offizier, der nach seiner Rückkehr aus Afghanistan in einer fremden Wohnung übernachten musste. Ein Nachbar hielt ihn für einen Landstreicher, der sich unerlaubt Zutritt zur Wohnung verschafft hatte, und rief die Polizei, die dann mit einem schwerbewaffneten Sondereinsatzkommando anrückte. Sie brachen die Wohnungstür auf und zum Erstaunen des Offiziers sah er sie mit der gleichen Methode gegen ihn vorgehen, die er in seiner Ausbildung in Aufstandsbekämpfung gelernt hatte: Die Einheit hält sich nah an den Wänden, nimmt ihn mit ihren Waffen ins Visier, überwältigt ihn und so weiter.

»Weil so viel ungenutzte militärische Ausrüstung aus den Zeiten des Irak-Kriegs übrig ist, sind inzwischen die Polizeiämter damit überflutet.«

Die US-Armee hatte oder hat noch im Irak und in Afghanistan mit echten Aufständen zu tun. Aber in den USA findet doch derzeit gar kein solcher Aufstand statt. Was bedeutet das in der Konsequenz?
Das ist genau der Punkt. Diese Formen der Aufstandsbekämpfung, die gegen die aufständische Bevölkerung in den Kolonien entwickelt wurden, werden paradoxerweise in einem nationalen Kontext angewandt, wo es, zumindest im Falle der USA, gar keinen Aufstand gibt. Deshalb spreche ich von »Konterrevolution«: Die Methode der Aufstandsbekämpfung hat sich in ­Ab­wesenheit eines eigentlichen Aufstands oder einer Revolution und losgelöst von ihren Ursprüngen zu einer Methode des Regierens gewandelt. Besorgniserregend daran ist, dass sie auf der Fiktion eines stattfindenden Aufstands basiert. Sie braucht einen Aufstand, und in den USA hat das in der Folge zur Dämonisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen geführt, um diese wiederum als Aufständische zu behandeln.

Es gab die private Sicherheitsfirma Tiger Swan, die voriges Jahr ein Gelände gegen Teilnehmer der Proteste in Standing Rock, North Dakota, sichern sollte. Mitarbeiter von Tiger Swan bezeichneten die protestierenden Native Americans als »Jihadisten«. Sie waren in ihren Augen Aufständische und die Tiger-Swan-Mitarbeiter verwendeten Taktiken der Aufstandsbekämpfung gegen sie, als befänden sie sich in Afghanistan. Die Firma wurde für den Einsatz in Afghanistan gegründet, so auch die Sicherheitsfirma Blackwater, die Söldner in Gebiete schickt, in denen Aufstands­bekämpfung stattfindet. Dann kommen sie zurück und übernehmen die Sicherung privater Interessen in den USA. Dass sie letztlich dieselbe Mentalität und Denkweise beibehalten, ist nicht erstaunlich. Sie beginnen, ihre Gegenüber in Kategorien der Aufstandsbekämpfung anzusehen, als Aufständische oder als passive Masse. Sie behandeln und bekämpfen Menschen entsprechend, wenn sie diese als Jihadisten verstehen.

Was passiert, wenn diese Methoden bei sozialen Konflikten eingesetzt werden, die zwangsläufig in jeder Gesellschaft stattfinden?
Die größte Gefahr, die von dieser neuen Methode des Regierens ausgeht, ist, dass sie öffentlichen Ausdruck von Protest und Meinungsverschiedenheiten nicht zulässt. Protest erscheint in dieser Wahrnehmung schnell als Aufstand, der mit aller Macht unterdrückt werden muss. Man konnte das in Standing Rock beobachten, wo die Bewegung quasi militärisch beendet wurde. Man konnte es auch bei der »Occupy Wall Street«-Bewegung beobachten, die letztlich gewaltsam von der Polizei beendet wurde. Viele denken, »Occupy« habe versagt, weil die Leute keinen langen Atem hatten. In Wahrheit wurde die Bewegung gewaltsam durch die Räumung des Zuccotti-Parks beendet. Man kann also sagen, dass die Anwendung dieser Mittel der Aufstandsbekämpfung zur gewaltsamen Eindämmung von Protesten führt. Es ist noch gar nicht klar, was das in der Konsequenz bedeutet.

Diese Formen der Polizeiarbeit scheinen im Kampf gegen soziale Bewegungen recht effektiv zu sein. Zugleich beobachtet man den Aufstieg einer neuen extremen Rechten, die zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung eine Art Aufstand gegen das liberale politische Establishment führt. Werden die genannten Formen der Aufstandsbekämpfung auch gegen die extreme Rechte angewendet und greifen sie da genauso?
Man kann im Gegenteil leider sehr häufig beobachten, wie hier in den USA die Polizei mit Leuten aus der Alt-Right-Bewegung kooperiert, um in einer Form von Aufstandsbekämpfung gegen die Linke vorzugehen. Das konnte man neulich in Kalifornien sehen, wo Ermittler der Landespolizei ihre Informationen von Alt-Right-Anhängern bekamen, um gegen Proteste der Bewegung »Black Lives Matter« vorzugehen. Man kann schon ein starkes Ungleichgewicht beobachten, wie etwa das FBI gegen Personen und Gruppen vorgeht, die es als Extremisten ansieht – so ­werden Aktivisten von »Black Lives Matter« neuerdings als black identity ­extremists bezeichnet –, und gegen Aktivisten der Alt-Right-Bewegung. Das ist nicht verwunderlich: Die Denkart der counterinsurgency steht eher dem law and order-Denken der Rechten nahe, während Linke schneller unter die Kategorie Aufständische fallen.
 

Am kommenden Sonntag, dem 10. Juni  wird Bernard Harcourt in der Berliner Schaubühne mit Carolin Emcke über die Frage »Konterrevolution – Amerika im Krieg gegen die eigenen Bürger?« diskutieren.