In St. Petersburg gibt es eine viersprachige Zeitung zentralasiatischer Arbeitsmigrantinnen

Selbstorganisation in vier Sprachen

Seite 2 – Praktische Solidarität
Reportage Von


In der Zeitung Gul wird unter anderem über solche Fälle berichtet und darüber, wo man sich bei Bedarf Hilfe holen kann. In einer kürzlich erschienenen Ausgabe ging es zum Beispiel um den Petersburger »Wohltätigkeitsfonds zur Unterstützung und Entwicklung von Bildungs- und Sozialprojekten« (PSP-Fonds), der verschiedenen sozial schwachen Gruppen, darunter Migranten, mit Rat und Tat zur Seite steht. Der Koordinator der Migrantensolidaritätsarbeit beim PSP-Fonds ist Andrej Jakimow. Er engagierte sich zuletzt auch im Fall der usbekischen Fabrikarbeiter, von denen Anisa erzählte. »Leider kommen solche Fälle immer wieder vor«, erzählt er mit ernster Miene in einem Petersburger Café. »Was wir tun können, ist, Dolmetscher zu beschaffen, juristisch beizustehen und dafür zu sorgen, dass die zuständigen Behörden eingeschaltet werden. Leider lassen sich die betroffenen Migranten oft viel gefallen, bevor sie sich wehren, und die russischen Gewerkschaften sind bei Arbeitsmigranten nicht besonders ­aktiv.«

»Das Patriarchat ist in unseren Herkunftsländern fest verankert. Das wirkt sich auch auf das Leben in der Migration aus.« Safina von der Zeitung »Gul«

Dabei hat es schon einzelne Versuche gegeben, Arbeitsmigranten zu organisieren. Ein solcher Versuch war zum Beispiel die Gewerkschaft der »Dworniki« vor einigen Jahren. Dwornik, abgeleitet vom russischen Wort für Innenhof, bedeutet eine Mischung aus Straßenfeger und Hausmeister, und ist ein ­typischer Migrantenjob. In bunten ­Reflexjacken halten die Dworniki die Straßen, Bürgersteige und historischen Innenhöfe der Metropole am Fluss Newa sauber und im Winter eisfrei. »Initiiert wurde die Dwornik-Gewerkschaft von einer Frau aus Zentralasien, die vorher in der Nowoprof, einer der wenigen freien russischen Gewerkschaften, aktiv war«, erinnert sich Jakimow. »Die haben großartige Arbeit geleistet, aber als die Projektfinanzierung endete, verlief das Ganze leider im Sand«, fügt er mit einem Seufzer hinzu.

Dass es ausgerechnet junge Frauen sind, die das Zeitungsprojekt Gul ­betreiben, ist für Jakimow nicht überraschend. »In der Geschlechterperspektive erleben wir hier immer wieder eine interessante Dynamik«, sagt er. Obwohl Frauen unter den Arbeitsmigranten in der Minderheit sind, seien es gerade sie, die sich an den PSP-Fonds wenden, um Unterstützung zu bekommen. »Wenn Männer kommen, dann tun sie das fast ausschließlich in ihrer eigenen Sache und mit arbeitsbezogenen Problemen«, erzählt Jakimow. »Frauen kommen gewöhnlich mehrmals, mit unterschiedlichen Problemen, und oft auch als Vertreterinnen für ­andere: Verwandte, Bekannte, Landsleute. Auf diese Weise werden sie nicht ­selten von Opfern zu Aktivistinnen.«
Mehr als eine Blume

Es ist diese Tendenz zu solidarischem Handeln bei Migrantinnen, die das ­Zeitungsprojekt Gul sowohl verkörpert als auch fördert. Das Wort gul bedeutet in verschiedenen zentralasiatischen Sprachen »Blume« und ist gleichzeitig ein in der Region weit verbreiteter Mädchenname. Der Name des Blatts ist treffend, nicht nur weil es sich vor ­allem an Migrantinnen richtet, sondern auch weil es von Migrantinnen pro­duziert wird. Die Redaktion der monatlich erscheinenden Zeitung besteht aus elf jungen Frauen, die zwischen 16 und 26 Jahren alt sind. Zwei von ihnen sind Russinnen, die anderen kommen wie die meisten zentralasiatischen Arbeitsmigrantinnen in Russland aus Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan. Auch die Zeitung selbst ist viersprachig – alle Texte werden auf Russisch, Kirgisisch, Tadschikisch und Usbekisch gedruckt.

»Das Patriarchat ist in unseren ­Herkunftsländern fest verankert«, sagt Safina im tadschikischen Restaurant am Sennoj-Basar und verweist auf die Wichtigkeit des Projekts Gul. »Als Frau soll man sich unterordnen. Das wirkt sich auch auf das Leben in der Migra­tion aus, und weibliche Arbeitsmigranten haben andere Alltagsprobleme als männliche.« Safina hält inne, wirft ­einen kurzen Blick auf eine Gruppe tadschikischer Männer, die sich am Nachbartisch laut unterhalten, und fährt dann mit gedämpfter Stimme fort: »Wenn eine Frau zum Beispiel Opfer von häuslicher Gewalt wird, wird erwartet, dass sie das schweigend duldet, statt Hilfe zu suchen. In der nächsten Nummer der Gul geht es deshalb konkret um Frauenhäuser und ähnliche ­Beratungsstellen.« Ihre Schwester Anisa nickt und fügt hinzu: »Das Gute ist, dass Frauen in miesen Situation oft besser darin sind, strategisch zu handeln, als Männer. Mit unserer Zeitung wollen wir Migrantinnen helfen, auf eigenen Beinen zu stehen und ihre Rechte zu verteidigen.«

 

* Name geändert von der Redaktion