Die USA verschärfen ihre Abschiebepolitik

Willkürlich abschieben

In den USA wird die Abschiebung von Migranten forciert. Betroffen davon sind immer öfter einfache Arbeiterinnen und Arbeiter, die seit Jahren im Land leben.

»Brauchst du eine Gabel?« fragt Victor Aguirre, 55 Jahre alt, und reicht einen großen Becher mit frischem Obst. Das Obst ist heute umsonst, ein kleines Dankeschön an die Nachbarinnen und Nachbarn, die ihm in den vergangenen Wochen geholfen haben. Aguirre ist frutero, einer von Tausenden spanischsprachigen Immigranten in Los ­Angeles, die an Straßenecken frisches Obst verkaufen. Seit Jahren schon baut er seinen Obststand jeden Morgen an einer Ecke im Nordosten von Los Angeles auf, von Montag bis Samstag.

Jeden Tag steht er um zwei Uhr morgens auf und kauft das Obst auf einem Großmarkt in Downtown, dann dauert es noch einige Stunden, bis er die Mangos, Melonen und Kokosnüsse in mundgerechte Häppchen geschnitten hat. An heißen Nachmittagen freuen sich Schulkinder über die frischen Obstbecher, an Wochenenden bringt Aguirre manchmal gratis Kostproben zum örtlichen Polizeirevier und verteilt sie an die Polizisten – das macht man, wenn man keinen Ärger mit den Behörden will.

Dennoch war Aguirre über einen Monat lang in Haft. »Sie haben mich ­geschnappt, als ich meine Wohnung verlassen habe«, sagt er. Aguirre ist 1987 illegal über die mexikanische Grenze in die USA gekommen, im März dieses Jahres wurde er von der Einwanderungsbehörde ICE aufgegriffen. »Sie sind mir mit drei Streifenwagen gefolgt, dann haben sie mich einfach mitgenommen. Es waren uniformierte Beamte. Sie sagten, dass sie mich seit Wochen beschatten.« Die Beamten behaupteten anfangs, sie hätten nur ­einige Fragen, doch Aguirre wurde 38 Tage lang in einem Abschiebezentrum festgehalten. Er schlief auf einem Metallbett ohne Matratze, nur eine dünne Decke hatte man ihm gegeben. Wenn er Fragen stellte oder den Beamten auch nur in die Augen schaute, sei er angeschrien worden, sagt er. Schließlich kam er bis auf weiteres auf Kaution frei – für 10 000 US-Dollar.

Aguirre ist einer von Tausenden, die unter den Auswirkungen einer offenbar willkürlichen Immigrationspolitik zu leiden haben. Bereits in seiner ­ersten Rede als Präsidentschaftskandidat im Juni 2015 beschwor Donald Trump die Schreckgespenster der Rechten: triebgesteuerte Latinos, gerissene Asiaten, mörderische Muslime. Doch scharfe Rhetorik allein ist noch keine Politik, und mit letzterer tut sich die Regierung Trump merklich schwer. Als Justizminister Jeff Sessions im April dieses Jahres bekanntgab, von nun an alle illegal über die Südgrenze der USA Eingereisten strafrechtlich zu belangen, hatte das dramatische Auswirkungen. »Wer widerrechtlich die Grenze überschreitet, wird verhaftet«, so Sessions in einer Rede in Scottsdale im Bundesstaat Arizona im April.

 

Dennoch bleiben die USA eines der wichtigsten Einwanderungsländer der Welt. Mit dem Erstarken der US-Wirtschaft in den vergangenen drei Jahren ist auch die Zahl der Migranten wieder angestiegen, die Grenzschutzbehörde CBP hat in den vergangenen zwei ­Monaten an die 100 000 Migranten zurückgewiesen oder verhaftet. Da jedoch nach geltendem US-Recht Minderjährige nicht inhaftiert werden dürfen, werden seit Monaten Kinder, die illegal über die Grenze kamen, von ihren ­Eltern getrennt, was Sessions in seiner Rede explizit erwähnte. Die Kinder kommen unter die Obhut des Gesundheitsamts HHS.

In bislang 700 Fällen, so die Bürgerrechtsorganisation American Civil ­Liberties Union (ACLU), wurden Kinder monatelang und Tausende von Kilometern von ihren Familien entfernt in Übergangslager eingewiesen, während ihre Eltern woanders inhaftiert waren. Per Twitter gab Trump am 26. Mai den Demokraten die Schuld für das derzeitig geltende Gesetz, das es ermögliche, ­Eltern und Kinder zu trennen, sobald sie die Grenze überquert haben. In ­einem am Montag vergangener Woche veröffentlichten Papier des HHS hieß es, die einzige Lösung sei eine Änderung des Bundesgesetzes, »damit illegale Migranten zurückgeschickt werden können, nachdem sie aufgegriffen wurden«.

Im Januar 2017 ordnete das ICE an, die Anzahl stichprobenartiger Visumsüberprüfungen an Arbeitsplätzen zu vervierfachen. Hatte die Regierung von Barack Obama die Einwanderungs­behörde noch angewiesen, »ungefährliche« Migranten auf eine Warteliste zu setzen und sich in erster Linie auf illegal eingewanderte Gewaltverbrecher zu konzentrieren – »administrative Sperrung« nannte sich das – ließ Sessions auch diese Regelung aufheben. Mit dem Resultat, dass das ICE sich nun verstärkt auf diejenigen Migranten konzentriert, die für die involvierten ­Beamten keine Gefahr darstellen. Also Menschen wie Aguirre: Arbeiter, Straßenhändler und Tagelöhner. An die 350 000 Migranten, die zuvor nicht ­belangt worden waren, können nun jederzeit verhaftet werden.

Anfang Mai beendete die US-Regierung den Temporary Protected Status (TPS), ein Programm für Immigranten, denen die USA etwa wegen Verfolgung oder Naturkatastrophen in ihrem Herkunftsland einen Schutzstatus gewährt hatten. Mehr als 56 000 Menschen aus Honduras wurden angewiesen, innerhalb eines Jahres die USA zu verlassen – um in ein Land mit einer der weltweit höchsten Mordraten zurückzukehren. Auch 9 000 Menschen aus Nepal, ­denen man nach dem Erdbeben in ­Kathmandu 2015 Asyl gewährt hatte, sollen innerhalb von zwölf Monaten ­abgeschoben werden. Ähnlich geht es Einwanderern aus El Salvador, Haiti und dem Sudan.

Zugleich beharren die USA darauf, dass Asylanträge im ersten sicheren Transitland gestellt werden sollen, bei vielen lateinamerikanischen Migranten faktisch also in Mexiko – für die mexikanische Regierung ist das keine attraktive Option, insbesondere nicht so kurz vor der Präsidentschaftswahl am 1. Juli. Mit seinen verbalen Ausfällen und Beschimpfungen gegen Lateinamerikaner tut sich Trump in dieser Frage keinen Gefallen. Statt die fragile Rechtsstaatlichkeit in den Ländern ­südlich der Grenze zu stärken, inspiziert der Präsident »Prototypen« seiner »Mauer« – im Grunde nur diverse Betonplatten –, die in San Diego mediengerecht präsentiert wurden. Oder er brüllt, wie am 9. Mai, die Ministerin für Innere Sicherheit, Kirstjen Nielsen, bei einer Kabinettssitzung 30 Minuten lang an, weil immer noch »zu viele« Einwanderer über die Grenze kommen. »Wir haben geschlossen!« soll Trump gewütet haben. Das ist keine Politik, das ist Chaos.

Wie bereits im Wahlkampf 2016 erliegt die Medienberichterstattung einer ­nahezu morbiden Faszination für die Person Trump, die Auswirkungen seines desorganisierten Regierungsstils treten in den Hintergrund. Es ist vor ­allem die spanischsprachige Tageszeitung La Opinión in Los Angeles, die eine minutiöse Chronik dieses Chaos erstellt und über die menschlichen ­Folgen des politischen Vorgehens der Regierung berichtet. Über Menschen wie Aguirre zum Beispiel. Um seine Kaution von 10 000 US-Dollar bezahlen zu können, organisierten Nachbarn eine Online-Petition: Binnen weniger Tage wurden über 12 000 US-Dollar an Spendengeldern gesammelt, damit Aguirres Schwester Fabiana die Kaution zahlen und ­einen Anwalt einschalten konnte. Einige Nachbarn schrieben Briefe an das Gericht und bezeugten den guten Charakter Aguirres – diesen Umständen ist es zu verdanken, dass Aguirre nun wieder frei ist und eine zweite Chance erhält. In den kommenden ­Wochen soll entschieden werden, wie es mit seinem Fall weitergeht. Vermutlich, so Aguirre, »werde ich das Land verlassen müssen. Aber dann kann ich von Mexiko aus eine Greencard beantragen.«

Trump ist die juristische Unterstützung von Migranten ein Dorn im Auge. In einem Interview vom 24. Mai mit Fox News sagte er, andere Länder hätten Sicherheitspersonal, das darüber entscheide, wen man ins Land lasse. »Wir haben Tausende Richter und sie brauchen Tausende Richter mehr. Das ganze System ist korrupt. Es ist schrecklich«, so Trump. Sessions indes machte die bessere Ausstattung der Immigrationsgerichte und die Einstellung zusätzlicher Richter zur obersten Priorität.