Trotz Repression stellt die HDP einen Präsidentschaftskandidaten. Er sitzt im Gefängnis

Der kurdische Faktor

Nach aktuellen Umfragen könnten Präsident Recep Tayyip Erdoğan und das Wahlbündnis der AKP in den anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen jeweils die absolute Mehrheit verfehlen. Die linke, prokurdische HDP hat ihren Anteil daran.

Falls die AKP die Wahlen gewinne, hänge das Schicksal der Türken »vollständig an der Gnade einer Person«, warnte Selahattin Demirtaş am vergangenen Sonntag. Eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen in der Türkei meldete sich der Kandidat der prokurdisch-linken HDP mit einer Ansprache aus dem Gefängnis. In der zehnminütigen Wahlkampfrede im Staatssender TRT warnte er vor den Folgen einer »Ein-Mann-Herrschaft« von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Seit 2014 zeichnet sich ab, dass Demir­taş als Politiker für die Zukunft der Türkei entscheidend sein könnte. Bei den damaligen Präsidentschaftswahlen erreichte er unerwartet fast zehn Prozent der Stimmen. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 schaffte es die HDP unter seiner Führung als erste prokurdische Partei, die Zehnprozenthürde zu überwinden – und verhinderte ­damit eine absolute Mehrheit der AKP. Auf die Aufbruchstimmung, die Demirtaş mit diesen Erfolgen auslöste, folgte Ernüchterung: Krieg, Neuwahlen, Putschversuch, Ausnahmezustand und schließlich seine eigene Festnahme. Seit über anderthalb Jahren sitzt er nun bereits in Untersuchungshaft. Vorgeworfen wird ihm unter anderem die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, der PKK.

In diesem Jahr kandidiert er erneut für die Präsidentschaft, dieses Mal aus dem Gefängnis heraus. Den Wahlkampf führt er über Twitter, seine Botschaften übermittelt er durch Dritte.

Außer dem Präsidenten wählt die türkische Bevölkerung am 24. Juni auch ein neues Parlament. Wenige Tage vor den Wahlen sieht es aus, als könnten Demirtaş und die HDP abermals von entscheidender Bedeutung sein. Ak­tuellen Umfragen zufolge könnte Erdo­ğan die absolute Mehrheit verfehlen; dann würde die Präsidentschaftswahl erst bei einer Stichwahl am 8. Juli entschieden. Solche Umfrageergebnisse sind allerdings in der Türkei mit Vorsicht zu genießen.

In den Umfragen zu den Parlamentswahlen liegt das Bündnis »Volksallianz«, das die AKP mit der ultranationalistischen MHP eingegangen ist, zwar knapp vor der »Allianz der Nation« aus kemalistischer CHP, der MHP-Abspaltung İyi-Parti und der islamistischen Saadet Partisi. Sie kommt aber nicht auf die absolute Mehrheit. Der Hauptgrund für die mögliche Schlappe ist die HDP.

Den Prognosen zufolge könnte die linke prokurdische Partei, die keinem Wahlbündnis angehört, es wieder schaffen, die Zehnprozenthürde zu überwinden und damit, wie bereits im Juni 2015, eine parlamentarische Mehrheit der AKP verhindern.

Diese Prognose dürfte Erdoğan gegenwärtig Sorgen machen. Selbst wenn er die Präsidentschaftswahl für sich entscheidet, würde es ihm das Regieren trotz der neuen Machtfülle erschweren, wenn seine Partei im Parlament keine Mehrheit hätte. Im Gesetzgebungsprozess könnte das Parlament Dekrete des Präsidenten durch eigens eingebrachte Gesetze ersetzen. Auch die Kompetenzen des Präsidenten in Bezug auf den Staatshaushalt, die er mit dem neuen Präsidialsystem erhält, könnten dadurch geschmälert werden.

Angesichts der Unregelmäßigkeiten, die beim Referendum im April 2017 geduldet wurden, sind Manipulations­versuche auch bei der kommenden Wahl nicht völlig unwahrscheinlich.

Doch selbst die Präsidentschaft scheint Erdoğan nicht mehr sicher. Auch hier haben die kurdischen Stimmen Gewicht. Eine Umfrage des Zentrums für politische und soziale Forschung »Samer« in 18 Provinzen mit hohem kurdischen Bevölkerungsanteil ergab, dass es zwischen Demirtaş (39 Prozent) und Erdoğan (38 Prozent) beziehungsweise der HDP (39 Prozent) und der AKP (34 Prozent) relativ knapp steht. Die Wahlberechtigten im Osten und Südosten der Türkei würden bei einer Stichwahl (knapp die Hälfte der 2 100 Befragten erwarten eine Stichwahl) auch eher für den CHP-Kandidaten Muharrem İnce (23,3 Prozent) als für Erdo­ğan (16,7 Prozent) stimmen. Wenn es İnce in einem zweiten Wahlgang gelänge, die Stimmen der HDP-Wähler und der anderen oppositionellen Kandidaten auf sich zu vereinen, würde es tatsächlich knapp werden für Erdoğan. Eine Niederlage könnte weitreichende Folgen haben, sowohl für die Stabilität der Türkei als auch für Erdoğan persönlich.