Trotz Repression stellt die HDP einen Präsidentschaftskandidaten. Er sitzt im Gefängnis

Der kurdische Faktor

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Bei seinem Wahlkampfauftritt im kurdischen Diyarbakır trat CHP-Kandidat İnce kürzlich mit einer Rede über Versöhnung auf. Manche Menschen schwenkten dazu HDP-Fahnen. Schon als er den HDP-Kandidaten Demirtaş im Gefängnis besuchte, verdeutlichte er, dass er offensiv um kurdische Stimmen werben würde – trotz eines Bündnisses mit Ultranationalisten und Islamisten. Der Journalist Ahmet Şık, der bei dieser Wahl für die HDP kandidiert, sagte über İnces Auftritt: »Die Wähler erwarten von Muharrem İnce, dass er offen erklärt, wie er die kurdische Frage lösen will. Und derjenige, der am offensten darüber sprach, war Herr İnce.«

Bisher war die AKP in den kurdischen Gebieten stets zweitstärkste Kraft nach der HDP. Die Bevölkerung dort unterstützt nicht geschlossen die HDP, nicht alle sehen sich als Teil der »kurdischen Bewegung«. Um die Stimmen der von der AKP enttäuschten konservative Kurden werben auch die islamistische Saadet Partisi, das Überbleibsel der Millî-Görüş-Bewegung, und die islamistisch-kurdische Hüda Par. Manche, die noch 2015 für die HDP stimmten, werden das nach der Gewalteskalation in den Jahren nach 2015 vielleicht aus Angst nicht mehr tun.

Die Antwort der AKP auf den Erfolg der HDP bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 war Krieg. Und der Krieg half Erdoğan, bei der Neuwahl im November 2015 auch in den kurdischen Gebieten Stimmen zu bekommen. Selbst in Diyarbakır erhielt die HDP bei der Neuwahl nur noch 72,8 Prozent der Wählerstimmen, während sie im Juni 2015 noch bei 79,1 Prozent gelegen hatte. Die AKP verbesserte ihre Wahlergebnis innerhalb weniger Monate von 14 auf 21,4 Prozent. Es überrascht daher nicht, dass die türkische Armee vor den Wahlen die militärische Offensive gegen PKK-Stellungen verstärkt. Die türkischen Luftstreitkräfte hatten in der vergangenen Woche Stellungen der PKK im Nordirak angegriffen. Dabei wurden nach offiziellen Angaben Munitionslager und Unterkünfte zerstört. Nach Angaben Erdoğans habe die türkische Luftwaffe sogar ein Treffen der kurdischen Arbeiterpartei PKK in den nordirakischen Kandil-Bergen angegriffen. Dabei seien ranghohe PKK-Mitglieder getroffen worden, sagte Erdoğan im türkischen Fernsehen.

Doch auch dieser letzte Joker kann Erdoğan nicht beruhigen. Bei einem Wahlkampfauftritt im nordwesttürkischen Kocaeli am vorvergangenen Sonntag beschuldigte er Demirtaş, für zahlreiche Tote verantwortlich zu sein, die 2014 bei Ausschreitungen im Rahmen von Protesten gegen die Be­lagerung von Kobanê getötet worden waren. Die Menge schrie daraufhin »Todesstrafe«. Erdoğan versicherte, er werde für ein entsprechendes Urteil sorgen, sobald ihm das Parlament die Kompetenz dafür überträgt. Ein paar Tage später beschwerte er sich in Trabzon an der Schwarzmeerküste darüber, dass Demirtaş als Häftling überhaupt zu den Wahlen antreten darf. Dass es nicht bei verbalen Schlagabtauschen bleiben könnte, deutet ein kürzlich veröffentlichtes Video an. Darin sagt Erdoğan vor AKP-Funktionären, sie sollten »besondere Arbeit« gegen die HDP aufnehmen.

Angesichts der Unregelmäßigkeiten, die beim Referendum im April 2017 geduldet wurden, sind Manipulationsversuche auch bei der kommenden Wahl nicht völlig unwahrscheinlich. Ausschließen kann man mit Blick auf die vergangenen Jahre dagegen, dass Erdoğan eine Wahlniederlage einfach akzeptieren würde.