Eren Kesken, Anwältin, im Gespräch über die Auswirkung des Ausnahmezustands auf Frauen in der Türkei

»Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich so etwas wie Hoffnung«

Unter dem Ausnahmezustand in der Tükei leiden Frauen besonders, Gewalt habe dadurch eine neue Legitimation bekommen, sagt Eren Keskin. Die türkische Anwältin und Frauenrechtlerin sprach mit der »Jungle World« über die Rolle der Frauenbewegung in der Türkei.
Interview Von

In welchem Zustand ist die Frauenbewegung in der Türkei nach fast zwei Jahren Ausnahmezustand?
Man kennt ja die Bilder vom 8. März aus Istanbul, noch immer gehen dort und in anderen Städten der Türkei am Internationalen Frauentag Tausende Frauen auf die Straße. Sie sind viele und sie sind laut und auch international in den Medien präsent. Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in erster Linie Frauen unter dem Ausnahmezustand leiden. Denn durch ihn hat Gewalt eine ganz neue Legitimation bekommen. Insgesamt ist die Gesellschaft gewalttätiger geworden, Folter ist wieder an der Tagesordnung, aber besonders Gewalt gegen Frauen und Frauenmorde haben zugenommen. Außerdem wurden die meisten Frauenorganisationen während des Ausnahmezustands verboten.

Welche Rolle spielt die Frauenbewegung derzeit innerhalb der Opposition?
Die Frauenbewegung führt ihren Kampf weiter, trotz all der Repressionen. Wir Frauen bemerken eine wachsende Solidarisierung von Menschen aus der Opposition, die wir vorher nicht erreichen konnten. Auch wenn die Medien von der Regierung monopolisiert wurden, haben wir immer noch die sozialen Medien. Diese können wir sehr gut nutzen, um Sichtbarkeit zu erzeugen. Wir versuchen einfach, das Beste aus den Umständen zu machen.

Welche Hoffnungen knüpfen Frauen an die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni?
Ich selbst fühle seit langer Zeit endlich mal wieder so etwas wie Hoffnung. Auch wenn der Wahlkampf unter ungleichen und unfairen Bedingungen abläuft, besteht Hoffnung, dass die AKP-MHP-Allianz es nicht schafft, die Mehrheit zu gewinnen. Auch wenn die kurdennahe HDP sich nicht am Wahlbündnis der anderen Oppositionsparteien beteiligt, die Worte, die ihr Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş aus dem Gefängnis sendet, sorgen für enorme Aufregung. Und zum ersten Mal seit einer langen Zeit sieht die gesamte Opposition, dass die Macht Erdoğans und der AKP erschüttert werden kann. Die gesamte Opposition hat Hoffnung geschöpft und besonders Frauen brauchen diese Hoffnung.

Wie beurteilen Sie die Kandidatin und Gründerin der İyi-Partei, Meral Akşener?
Meral Akşener ist zwar die einzige Frau neben fünf männlichen Präsidentschaftskandidaten, aber sie vertritt keine Frauenstandpunkte. Gewalt an Frauen, Gleichberechtigung und alle klassischen Frauenthemen spielen in ihrer Wahlkampagne keine Rolle. Daher setzen Feministinnen, Menschenrechtlerinnen und LGBTIs auch keine Hoffnungen in sie. Außerdem wird sie noch immer mit dem »tiefen Staat« in Verbindung gebracht, dem Netzwerk von Geheimdiensten, Militär und Justiz mit Rechtsextremen und dem organisierten Verbrechen. Und sie war als Innenministerin von 1996 bis 1997 eine der Schlüsselfiguren der Unterdrückung der Kurden der damaligen Zeit. Natürlich vergessen die Frauen das nicht.

Glauben Sie, dass sich die Situation in der Türkei nach der Wahl beruhigen kann?
Ehrlich gesagt ist diese Frage sehr schwer zu beantworten, weil wir in der Türkei schon seit langem aufgehört haben, irgendwelche Voraussagen zu machen. Die Vergangenheit hat einfach gezeigt, dass so vieles möglich ist, das zuvor undenkbar schien. Sollte Erdoğan aber in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl die Mehrheit verpassen und es zu einer zweiten Runde kommen, dann hätte sich die Regierung möglicherweise selbst in eine Sackgasse manövriert. Und dann würde ich anfangen zu glauben, dass eine Normalisierung möglich ist.

Welche Rolle könnte die Justiz bei einer solchen Normalisierung spielen, welche Rolle spielt sie im Kampf der Frauenbewegung?
Die Justiz ist inzwischen komplett abhängig von der Regierung und ihre ­Urteile spiegeln die Männersicht zu hundert Prozent wider. Das haben wir insbesondere in den aktuellen Prozessen beobachtet, in denen es um Gewalt gegen Frauen ging. Im derzeitigen Regierungssystem denke ich nicht, dass sich daran etwas ändern wird, die Rechtsprechung wird abhängig bleiben. Der einzige Weg, der uns bleibt, ist der politische. Wir als Opposition müssen eine politische Normalisierung herbeiführen und dann können wir uns der Justiz zuwenden.