Proteste gegen das Urteil im NSU-Prozess

Handarbeit statt Schlussstrich

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Unter dem Motto »Kein Schlussstrich« fanden am Tag der Urteilsverkündung zahlreiche Demonstrationen in ganz Deutschland statt, wobei die im Anschluss an die Kundgebung vor dem Oberlandgericht stattfindende in München die größte war. Die Polizei sprach von 3 000, die Veranstalter sprachen von 6 000 Teilnehmenden. In Hamburg und Berlin gingen jeweils mehr als 1 000 Menschen auf die Straße. In Dortmund, Frankfurt und Kiel waren es zwischen 600 und 700 Demonstrierende. In Halle, Hannover, Göttingen, Bremen, Münster, Rostock, Freiburg, Osnabrück, Leipzig, Karlsruhe und Zwickau, dem letzten gemeinsamen Wohnort der NSU-Kernzelle, demonsrierten zwischen 100 und 400 Menschen. Das verbindende Motto der Proteste lautete: »Der NSU war nicht zu dritt.« . In Nürnberg schrieben Unbekannte auf die Wand der Tribüne des ehemaligen NS-Reichsparteitagsge­ländes in meterhohen Lettern »Nie wieder NSU«. Die NSDAP hielt dort zwischen 1933 und 1938 ihre Reichsparteitage ab. Mitglieder der Interventionistischen Linken (IL) überklebten in über 20 Städten mehr als 200 Straßenschilder mit den Namen der Opfer des NSU.

Die Taz berichtete, dass in Hamburg Plakate mit Bezug zum NSU-Komplex angebracht wurden. »Was hat Hamburg zu verbergen?« stand auf einen davon. Hamburg habe als einziges Bundesland, in welchem der NSU einen Mord verübte – 2001 an Süleyman Taşköprü –, noch keinen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Die ­Polizei nahm vier Personen wegen der Plakat­aktion in Gewahrsam.

Politik und Behörden nahmen das Motto der Proteste auf. Generalbundesanwalt Peter Frank sagte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, er sehe im NSU-Urteil keinen »Schlussstrich«. Nach der Urteilsverkündung sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), wie ebenfalls die FAZ berichtete, die Ur­teile markierten zwar das Ende eines Mammutprozesses, dürften aber für die Gesellschaft und die Sicherheits­behörden »kein Schlusspunkt« sein.

Zu den konkreten Forderungen der Proteste äußerten sich Frank und Seehofer hingegen nicht. Zu den auf der Kundgebung in München verlesenen Forderungen zählen die, alle Verantwortlichen anzuklagen, die laufenden Ermittlungen gegen weitere Unter­stüzerinnen und Unterstützer, zu denen auch Emingers Ehefrau Susann Eminger zählt, nicht einzustellen und alle Angehörigen der NSU-Mordopfer sowie die Opfer der Bombenanschläge zu entschädigen.

Derzeit prüfen die Anwälte der Angehörigen des NSU-Opfers Halit Yozgat Strafanzeigen gegen die Landesämter für Verfassungsschutz in Hessen und Brandenburg. »Nach wie vor ist offen, ob sich der Verfassungsschützer Andreas Temme dienstlich zur Tatzeit im ­Internetcafé aufhielt und ob er vorher erfahren hatte, dass hier etwas pas­sieren würde«, sagt der Thomas Bliwier, einer der drei Rechtsanwälte der Fa­milie Yozgat, der Welt. Das hessische Landesamt hat Akten zum Mord im Internetcafé in Kassel für 120 Jahre sperren lassen, angeblich, um Quellen zu schützen. Um Temmes Verhalten einordnen zu können, will Bliwier, wie die Welt berichtete, die Akten einsehen.

Der Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler will mit einer Staatshaftungsklage das Versagen der Ermittlungsbehörden feststellen lassen. Das berichtete das Online-Fachmagazin Migazin. Beim Landgericht Nürnberg sei, so Daimagüler, eine entsprechende Klage auf Schadenersatz von bislang drei betroffenen Familien eingereicht worden. Er sparch von einseitigen Ermittlungen in Migrantenkreisen und institutionellem Rassismus.

 

*Wohlleben verließ am Mittwochmorgen, den 18. Juli, die Justizvollzugsanstalt Stadelheim in München, wie eine Sprecherin des Gefängnisses sagte. Dies erfolgte nach Redaktionsschluss der Printausgabe am Dienstagabend.