Die Definition von Antisemitismus im Verhaltenskodex der britischen Labour-Partei sorgt für Kritik

Antisemitismus als Ansichtssache

Der seit Monaten währende Streit über Antisemitismus in der ­britischen Labour-Partei flaut nicht ab. Neuester Streitpunkt ist die Definition von Antisemitismus im kürzlich verabschiedeten Verhaltenskodex der Partei.

Immer wieder wurde dem Vorsitzenden Jeremy Corbyn und anderen Mitgliedern der britischen Labour-Partei in den vergangenen Jahren Antisemitismus vorgeworfen, unter anderem von der Campaign Against Antisemitism und jüdischen Organisationen, aber auch von der parteiinternen Plattform Jewish Labour Movement. Corbyn ­wurde zudem wiederholt angelastet, nicht genug gegen den Antisemitismus in seiner Partei zu unternehmen. Einige Mitglieder unterstützen zum Beispiel offen die antiisraelische BDS-Kampagne. Corbyn selbst nannte ­Hamas und Hizbollah 2009 im britischen Parlament seine »Freunde«. Als die Labour-Abgeordnete Naz Shah 2014 wegen antisemitischer Äußerungen suspendiert wurde, bewertete ihr Parteikollege Ken Livingstone, der ehemalige Bürgermeister Londons, dies als konzertierte Aktion der »Israel-Lobby«, die den Ruf der Partei schädigen wolle. Livingstone behauptete 2016, Hitler habe den Zionismus unterstützt, »bis er ­verrückt wurde und am Ende sechs Millionen Juden umbrachte«.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt zahlreicher antisemitischer Ausfälle aus den Reihen der Labour-Partei.

Zu Beginn dieses Jahres warfen Vertreter jüdischer Verbände Corbyn in ­einem öffentlichen Schreiben abermals vor, auf der Seite von Antisemiten zu stehen. Auslöser war ein Bericht, dass Corbyn 2012 auf Facebook Unterstützung für ein offensichtlich antisemitisches Graffito in Ost-London geäußert habe. Das Graffito bediente sich einer antisemitischen Bildsprache und zeigte eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung. Corbyn teilte daraufhin mit, er »bedaure« seine Unterstützung für das Wandbild. Doch das ging einigen nicht weit genug – und galt vielen als weiteres Indiz für Corbyns mangelndes Problembewusstsein. Manche äußerten den Verdacht, eine Mischung aus politischem Kalkül  – man wolle bestimmte Wählergruppen nicht verprellen –, der weiten Verbreitung anti­semitischer Überzeugungen bei der Labour-Mitgliedschaft und Corbyns ­eigener antizionistischer Haltung hinderten ihn an einem klaren Engagement gegen den Antisemitismus.

Viele Labour-Mitglieder fürchten nun um den Ruf der Partei nicht nur in der jüdischen Community. Eine unmittelbare Machtprobe innerhalb der Partei wurde indes abgewendet.

Ende März fand in London eine Demonstration gegen Corbyns Umgang mit Antisemitismus in der eigenen Partei statt. Hundert Menschen forderten ihn auf, sich für seine antisemitischen Äußerungen zu entschuldigen und sich in seiner Partei für eine klare Haltung gegen Antisemitismus einzusetzen.

Am 17. Juli hat das Exekutivkomitee der Labour-Partei einen Verhaltens­kodex zum Antisemitismus beschlossen. Die darin verwendete Antisemitismus-Definition ist jedoch umstritten, weil sie die vor zwei Jahren verabschiedete ­Definition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) nicht komplett übernimmt. Manche Labour-Mitglieder behaupten zu Unrecht, die Definition der IHRA mache Kritik an Israels Politik unmöglich. Die britische Regierung unter Führung der Konservativen und zum Beispiel auch die deutsche Bundesregierung haben die Definition der IHRA indes gebilligt. Die Antisemitismus-Definition der Labour-Partei orientiert sich zwar an der vorgeschlagenen Arbeitsdefinition der IHRA, weicht aber in vier von insgesamt elf Punkten von ihr ab. Nicht in den Verhaltenskodex der Partei übernommen beziehungsweise deutlich abgeschwächt ­wurden mehrere von der IHRA aufgelistete Beispiele für Antisemitismus, darunter fallen etwa Behauptungen, Israel sei ein rassistisches Projekt sowie Anschuldigungen gegen jüdische Bürger, sie seien Israel gegenüber loyaler als ihren eigenen Ländern. Auch das Messen mit zweierlei Maß, wenn es um Israel geht, also das Einfordern eines Verhaltens, wie es von keiner anderen demokratischen Nation gefordert wird, und Vergleiche der heutigen israelischen Politik mit der der Nazis wurden nicht in der Form wie bei der IHRA als Beispiele für Anti­semitismus übernommen.

David Rich vom Community Security Trust, der britischen Recherche- und Informationsstelle zu Antisemitismus, kam daher im Guardian zu dem Schluss, der Verhaltenskodex veranschauliche nur, wie anfällig die Partei unter Corbyn für Antisemitimus sei. Man könne nun zum Beispiel behaupten, dass Israel ein Nazi-ähnlicher Staat sei, der von der Landkarte getilgt werden sollte, und alle Juden, die das bestritten, vermutlich von Israel dafür bezahlt würden, ohne dass diese Behauptung im Verständnis der Labour-Partei als antisemitisch eingestuft würde. Der beschlossene Verhaltenskodex sei daher keine Lösung, sondern Teil des Problems.
Die Labour-Abgeordnete Margaret Hodge kritisierte den Beschluss ebenfalls. Die Partei meine es wohl besser zu wissen als zahlreiche staatliche und andere Organisationen in Großbritannien sowie insgesamt 31 Ländern, in denen die Definition der IHRA anerkannt wurde. Da es nicht automatisch zum Ausschluss aus der Partei führe, wenn ein Mitglied Zionisten als Nazis bezeichne, so Hodge, könne man nun einen Juden als Nazi bezeichnen, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen. Hodge nannte Corbyn gar einen »Rassisten und Antisemiten«, weil er die neue Regelung verteidigt. Im Guardian bekräftigte sie ihr Urteil und kritisierte ihre Partei dafür, sich wieder einmal nicht klar gegen Antisemitismus ausgesprochen zu haben – stattdessen habe man sich dafür entschieden, den bestehenden Antisemitismus zu »verankern«.

Zuletzt kritisierten die drei wichtigsten jüdischen Zeitungen in Großbritannien, Jewish Chronicle, Jewish News und Jewish Telegraph, den Beschluss des Labour-Leitungsgremiums. In einer außergewöhnlichen Aktion verurteilten die eigentlich rivalisierenden Zeitungen die Labour-Partei auf ihren ­Titelseiten in einem gemeinsamen Leitartikel und bezeichneten eine mögliche Regierung unter Corbyn als »existentielle Bedrohung« für jüdisches Leben im Land. Viele Labour-Mitglieder fürchten nun um den Ruf der Partei nicht nur in der jüdischen Community. Nun üben auch hochrangige Labour-Politiker Kritik. So sagte beispielsweise Jonathan Ash­worth, der Gesundheitsminister im Schattenkabinett der Partei, er sei »sehr deprimiert« ob der ­Reaktionen in den Zeitungen, das Exekutivkomitee solle seine Entscheidung revidieren. Wie der Guardian berichtet, zeigten sich weitere hochrangige Parteimitglieder verärgert, ihrer Ansicht nach ist eine kleine Gruppe um Corbyn  für den Beschluss verantwortlich. ­Jonathan Lansman, ein Mitglied im Exekutivkomitee, sagte, der gemeinsame Leitartikel sei »besorgniserregend«, aber er wies den Vorwurf zurück, Corbyn stelle eine Bedrohung für Juden dar.

Eine unmittelbare Machtprobe innerhalb der Partei wurde indes abgewendet. Einige Labour-Abgeordnete hatten eine Abstimmung über den Beschluss gefordert. Eine mögliche Abstimmung wurde jedoch auf September verschoben. Der Streit könnte sich weiter zuspitzen, sollten die Abgeordneten eine Übernahme der vollständigen Antisemitismus-Definition fordern. Denn die laufenden Wahlen für das Exekutiv­komitee der Partei werden vermutlich wieder für eine Corbyn-treue Mehrheit sorgen. So könnte die Forderung nach der Übernahme der vollständigen Definition vom Exekutivkomitee einfach abgelehnt werden.