Ricardo Pineda, Arzt, über die Repression und die Proteste in Nicaragua

»Wir verbrachten die Nacht in Todesangst«

Während der seit Monaten andauernden Proteste gegen die nicaraguanische Regierung unter Präsident ­Daniel Ortega vom FSLN versorgte Ricardo Pineda Gadea von der Ärztevereinigung Asociación Médica Nicaragüense verletzte Demonstrierende. Die Situation eskalierte am 18. April, als eine Demonstration von Rentnern und Studierenden gegen die Rentenreform in der Hauptstadt Managua brutal ­angegriffen wurde. Seither kommt es immer wieder zu Verletzten und Toten. Bisher starben rund 450 Menschen, es gibt Tausende Verletzte, zahlreiche Verschwundene und Gefangene. Mitte Juli über­lebte Pineda den Beschuss einer Kirche in Managua, in die sich Protestierende geflüchtet hatten. Kurz darauf floh er außer Landes. Dutzende Ärzte, die Protestierende versorgten, wurden jüngst vom Staat entlassen.
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Was war Ihre erste Reaktion auf die Eskalation vom 18. April?
Als es die ersten Proteste und die ersten Verletzten gab, habe ich mich empört. Als es die ersten Toten gab, wurde mir bewusst, dass es aus dieser Situation kein Zurück mehr gibt. Für mich stand fest: Ich kann keine Regierung unterstützen, die der Bevölkerung das Land mit Waffengewalt entrissen hat und Nicaraguaner tötet.

Ende der siebziger Jahre war ich Guerillero bei der nördlichen Front gegen Somoza (der Diktator Anastasio Somoza Debayle wurde 1979 vom FSLN gestürzt, Anm. d. Red.). Während der Achtziger übernahm ich Aufgaben im Dienste der Revolution, ich arbeitete bei der Alphabetisierung mit, erntete Kaffee und praktizierte als Arzt in einem Kampfbataillon der sandinistischen Armee. Mein ganzes Leben lang waren meine Familie und ich Sandinisten. Aber sandinistisch zu sein, ist keineswegs das Gleiche, wie dieses Regime zu unterstützen.

Sandino (Augusto César Sandino, gest. 1934, führte den Aufstand gegen die militärische Besatzung durch die USA und war Namensgeber des FSLN, Anm. d. Red.) betonte, dass es nicht darum gehe, als öffentlicher Amtsträger Reichtum anzuhäufen, sondern darum, der Bevölkerung zu dienen. Jetzt ­bereichert sich diese Regierung und die Regierenden sind die Herren von ­allem: der Nationalversammlung, der Polizei, dem Obersten Wahlrat.

Was haben Sie in Ihrer Rolle als Arzt entschieden zu tun?
Von Anfang an beunruhigte mich der Umgang der Regierung mit den Verletzten, da sie ihnen medizinische Versorgung verwehrte. Deshalb entschloss ich mich dazu, meine ärztlichen Dienste denen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchten. Ich fing an, die Organisationen zu unterstützen, die spontan entstanden, die »Freiwilligen Ärzte« waren eine der ersten davon. Aufgrund meiner Position als Vorstandsmitglied der Asociación de Médicos Nicaragüenses (Nicaraguanische Ärztevereinigung) konnte ich auch viele Medikamente mitbringen.

Ein gravierendes Problem war, dass die öffentlichen Krankenhäuser ihre Türen für die Verletzten schlossen. Und die Repression nahm weiter zu: Die festgenommenen Studierenden kamen in ein Gefängnis, in dem Folter und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, El Chipote. Mit ­anderen organisierte ich daher einen Gesundheitsposten direkt vor El Chipote. Wir hatten auch ein Zeltdach besorgt, um die Angehörigen der Gefangenen zu versorgen, die unter starkem Stress standen. Drei Wochen lang ­waren wir dort zuletzt Tag und Nacht.

Was genau ist in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli in der Iglesia Jesús de la Divina Misericordia passiert, einer Kirche in Managua?
Am 13. Juli arbeitete ich seit sieben Uhr morgens an meinem Arbeitsplatz. Später erhielt ich einen Anruf eines Kollegen, der mir mitteilte, dass die von Studierenden besetzte Universidad Nacional Autónoma de Nicaragua (UNAN) von der Polizei und paramilitärischen Gruppen angegriffen werde und es dort keine Ärzte gebe. Um vier Uhr nachmittags sagte er, es gebe Verletzte, und bat mich um Unterstützung. Ich begab mich zur Universität, wir waren dort drei Ärzte. Einer evakuierte die Verletzten und fuhr sie in ein Krankenhaus, das uns unterstützt und sie behandelte. Mein Kollege, der Kinderarzt Carlos Duarte, und ich blieben bei den Studierenden, die sich in der Universität ­verschanzt hatten. Um sechs Uhr abends entschieden sie sich, die Universität zu verlassen.

Wir alle suchten Zuflucht in der ­benachbarten Kirche, der Iglesia Jesús de la Divina Misericordia. Kurze Zeit später kamen drei weitere Verletzte. Einer Medizinstudentin, die selbst Verletzte behandelt hatte, war in den Oberschenkel geschossen worden. Zwei weiteren Studierenden hatte man ebenfalls in die Beine geschossen. Besonders die Lage der Studentin war ­kritisch.

Wir hofften, dass man uns nicht weiter angreifen würde, wenn die Uni­versität nicht mehr besetzt ist. Aber die Polizei und die paramilitärischen ­Einheiten kamen mit Kriegswaffen wie Maschinengewehren vom Typ PKM, M16 und AK47. In der Kirche waren rund 100 Studierende, davor verteidigten rund 20 Studierende eine Barri­kade, bewaffnet mit nichts als Mut. Es war klar, dass wir uns in Lebensgefahr befanden.

Wie ging es weiter?
Um sieben Uhr abends wurden wir informiert, dass einige Priester kommen wollten, um Menschen zu evakuieren. Sie nahmen einen US-amerikanischen Journalisten der Washington Post und netterweise auch noch drei Verletzte mit. Bei uns waren auch zwei weitere Journalisten. Die Priester wollten auch sie mitnehmen, aber die beiden wollten als Augenzeugen bei uns bleiben. Sie schrieben und dokumentierten die ganze Zeit mit.

Nachdem sich die Priester verabschiedet hatten, folgte bis acht Uhr morgens ständiger Beschuss. Die Studierenden leisteten mit Steinen und Böllern Widerstand.

Ab sieben Uhr abends schickten wir die ganze Zeit Beschwerden, Tonaufnahmen und Augenzeugenberichte raus. Aber irgendwann kam ein Punkt, da dachte ich, es fehlen nur noch ­Sekunden bis zu unserem Tod. Ich verabschiedete mich im Chat von meiner Familie. Das war schrecklich. Mein Kollege und ich gaben uns die Hand und sagten, es sei eine Freude gewesen zusammenzuarbeiten. Wir blieben sitzen und warteten, dass sie uns töten. Ich hatte große Angst.

Zwei Studierende wurden erschossen. Was war geschehen?
Um sechs Uhr morgens teilte man uns mit, es kämen Vertreter der Interame­rikanischen Menschenrechtskommission und ein Krankenwagen. Mit dem Tageslicht wurden wir weniger wachsam. Genau in diesem Moment töteten sie Gerard Vásquez und einen anderen Jungen mit Nachnamen Flores. Vásquez wurde von einem Heckenschützen durch einen Kopfschuss aus einem russischen Gewehr vom Typ Dragunow getötet, das ihm den ganzen Schädel zertrümmerte. Diese Waffe hat eine enorme Durchschlagskraft.

Beide waren zuvor schon verwundet ­worden und wir hatten sie in der Kirche behandelt. Sie hätten dort bleiben können, aber sie wollten nochmal raus, um uns zu berichten.

Die Armee muss Antworten geben, denn solche Waffen hat kein gewöhn­licher Krimineller.

Haben Sie von irgendwem Unterstützung erfahren?
Um ein Uhr morgens gab es einen kurzen Hoffnungsschimmer. Vier Häuserblöcke weiter kam eine Gruppe von ­Nicaraguanern in Fahrzeugen an und bat darum, passieren zu dürfen. Es war eine Karawane, die sich gegenüber der Polizei und den paramilitärischen Gruppen postierte. Der Beschuss nahm etwas ab. Die Karawane bestand aus Familienangehörigen und Kirchenmitgliedern – moralische Unterstützung. Als ich mitbekam, dass auch mein Sohn darunter war, rief ich einen Freund an, ­damit er ihm das verbiete. Später konnte ich direkt mit meinem Sohn telefonieren, doch er kam trotzdem.

Es gab zudem große internationale Unterstützung von medizinischen ­Organisationen aus ganz Lateinamerika. Der Bund nicaraguanischer Ärzte war immer sehr wohlwollend und bat uns nun um einen Bericht, auch Ärztever­einigungen in Spanien, Portugal, Argentinien, Costa Rica und Mexiko solida­risierten sich mit uns.

Warum müssen Sie sich jetzt verstecken?
Ich habe mitbekommen, dass das Gesundheitsministerium und die regierungsnahen Ärzteorganisationen ein Fahndungsfoto von mir verteilten und eine Belohnung auf meine Ergreifung aussetzten. Jetzt bin ich ein politisch Verfolgter, weil ich Verletzte versorgt habe, um die sie sich nicht kümmern wollten.

Wir hatten die ganze Nacht in der Kirche in Todesangst verbracht. Bis ­unerwarteterweise die Priester mit einer Gruppe der Verifizierungskommission kamen. Sie verhandelten unseren Abzug. Als ich draußen war, aß ich zunächst etwas, danach bestieg ich ein Fahrzeug und haute ab. Ich musste aus dem Land fliehen, ich habe mich versteckt. Ich habe klandestine Wege genutzt, ­damit ich nicht Beamten der Migrationsbehörde begegne. Man hätte mich ­sicher festgenommen, hätte ich meinen Ausweis gezeigt.