Stadtgesellschaften in Europa und den USA wollen eine andere Flüchtlingspolitik

Zweierlei Solidarität

In Nordamerika und Europa setzen sich Stadtgesellschaften für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten ein. Was eine »Solidarity City« ausmachen soll, darüber herrschen widersprüchliche Ansichten.

Benjamin Barber, ein kürzlich verstorbener früherer Berater von Bill Clinton, wird häufig mit den Sätzen zitiert: »Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Nationalstaaten. Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Städte sein.« Was die Migration angeht, könnte er recht behalten. Denn derzeit wenden sich vor allem Stadtregierungen in Nordamerika und Europa gegen restriktive nationale Migrationspolitik, die Abschottung der Grenzen und das Sterbenlassen von Hilfesuchenden auf den Fluchtrouten. Sie erklären ihre Städte zu »sicheren Häfen«, »solidarischen Städten« oder »Städten der Zuflucht«. Zuletzt hatten die Bürgermeister von Bonn und Düsseldorf und die Bürgermeisterin von Köln Ende Juli die Bundeskanzlerin öffentlich aufgefordert, die »Aufnahme geretteter Menschen« zu sichern.

Im Juni begann die neue rechte Regierung Italiens damit, Rettungsschiffen privater NGOs im Mittelmeer das Anlegen in italienischen Häfen zu verwehren. Im Einklang mit seinen deutschen und österreichischen Amtskollegen ließ Innenminister Matteo Salvini keine Gelegenheit aus, Flüchtlinge und die Besatzungen von Rettungsschiffen zu kriminalisieren und zu betonen, die Gesellschaften Italiens, Deutschlands und Österreichs seien nicht mehr bereit und fähig, weitere Geflüchtete aufzunehmen. Seither ist die private Seenotrettung im Mittelmeer nahezu blockiert. Die meisten Schiffe sind festgesetzt, Kapitänen und Crews drohen in Italien strafrechtliche Verfahren wegen angeblich fehlerhafter Schiffsregistrierungen oder »Unterstützung illegaler Migration«. Auch Militär- und Handelsschiffen, die aus Seenot gerettete Migrantinnen und Migranten an Bord haben, verweigert die italienische Regierung das Ankern in den Häfen des Landes.

Dagegen begehren nun Stadtgesellschaften überall in Europa auf. Für ­internationale Aufmerksamkeit sorgten Mitte Juni die Statements der Bürgermeister süditalienischer Küstenstädte, darunter Palermo, Neapel und Messina. Sie kritisierten die Weigerung der Zentralregierung, das Rettungsschiff »Aquarius« mit über 600 Bootsflüchtlingen an Bord in einem italienischen Hafen vor Anker gehen zu lassen, und erklärten sich bereit, die auf dem Schiff befindlichen Flüchtlinge in ihren Städten aufzunehmen. Leoluca Orlando, der streitbare langjährige Bürgermeister von Palermo, kündigte an, rechtliche Schritte gegen Salvini wegen unterlassener Hilfeleistung und Verletzung des Seerechts zu prüfen. Auch die Berliner und Kieler Stadtregierungen signalisierten kurz darauf ihre Bereitschaft, Bootsflüchtlinge direkt in ihren Städten aufzunehmen. Der Ber­liner Senat war zuvor mit den Stadtregierungen von Barcelona und Neapel in Verhandlungen über eine Kooperation beim Flüchtlingsschutz getreten. Die drei Städte gehören dem 2016 gegründeten Netzwerk »Solidarity Cities« an, in dem sich Regierungen mehrerer europäischer Großstädte zusammengeschlossen haben. Die linke Stadtregierung von Barcelona hatte Anfang Juli den Hafen der Stadt für ein privates Rettungsschiff mit Flüchtlingen an Bord geöffnet, nachdem es in Italien und Malta abgelehnt worden war. Gearbeitet wird in der katalanischen Metropole zudem an einem kommunalen Ausweisdokument, das auch den undokumentierten Bewohneren der Stadt den Zugang zu sozialen

Der Schutz undokumentierter Migranten vor dem Zugriff der Bundesbehörden hat in US-amerikanischen »Sanctuary Cities« Priorität.Einrichtungen ermöglichen soll.

Der Städteverbund »Solidarity Cities«, in dem neben Berlin und Wien vor ­allem die großen europäischen Hafenstädte Barcelona, Athen, Neapel und Rotterdam vertreten sind, zielt jedoch vor allem auf eine effizient koordinierte Bewältigung dessen, was im Gründungsdokument »Flüchtlings­krise« genannt wird. Er fordert von der EU-Kommission höhere Mittel für die soziale Infrastruktur jener Städte in Europa, in denen de facto die meisten Geflüchteten ankommen oder bereits leben. Ansonsten hat »Solidarity Cities« vor allem symbolischen Charakter. Bislang hat der Verband hauptsächlich Erklärungen formuliert, eine Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Gruppen findet nur sporadisch statt.