Der Episodenfilm »En attendant les hirondelles« des algerischen Filmemachers Karim Moussaoui

Der wunderbare algerische »Mein Baby gehört zu mir«-Moment

In seinem Spielfilmdebüt »En attendant les hirondelles« erzählt Karim Moussaoui drei Geschichten aus dem Algerien der Gegenwart. Ein spannend gemachtes Roadmovie, das, zwischen Slums, eleganten Interieurs und urbanem Moloch pendelnd, die Freiheit des Einzelnen feiert.

Zu den unerwarteten Dingen in diesem an Originalschauplätzen in Algerien gedrehten Film gehört der Einsatz klassischer Musik. Wenn etwa die Bach-Kantate »Ich habe genug« erklingt, um die Bilder des zerrissenen Algerien nach dem Bürgerkrieg mit der besonderen Emotionalität geistlicher Musik aufzuladen. Man merkt dem Film von der ersten bis zur letzten Minute an, dass der algerisch-französische Regisseur Karim Moussaoui alles getan hat, um eine klischeehafte Darstellung der Menschen und ihrer Probleme im heutigen Algerien zu vermeiden, und stattdessen einen universalen Horizont eröffnet. Deshalb gehört auch das deutsche Kirchenlied in seine Erzählung. Aber auch die Klänge der maghrebinischen Volksmusik Raï befeuern den von großartigen Tanzszenen schier überbordenden Spielfilm.

Nach dem Kurzfilm »The Days Before« von 2013 ist »En attendant les hirondelles« der erste Langfilm des jungen Regisseurs. 2017 hatte der Film in der Sektion »Un certain regard« in Cannes Premiere. In Deutschland wurde er unter dem Titel »Until the Birds Return« auf verschiedenen Festivals gezeigt, bevor er nun unter dem reichlich unmelodiösen Titel »Warten auf Schwalben« im arabischen Original mit deutschen Untertiteln seinen bundesweiten Kinostart hat.

Die Nähe zum Kurzfilmgenre ist überdeutlich. Aufgebaut ist »En attendant les hirondelles« als Triptychon aus drei lose miteinander verbundenen Geschichten, die jeweils Vertreter einer anderen sozialen Klasse zeigen. Moussaoui beginnt mit einer Geschichte aus der Oberschicht, fokussiert im zweiten Teil auf die junge Mittelschicht und beendet die Erzählung in den Elendsquartieren der Vorstädte. Eine Verbindung zwischen den drei Handlungen schafft das Motiv der Reise, auf die sich die Figuren auf ganz unterschiedliche Weise begeben. Genauso eindrucksvoll wie die spektaktulären Landschaftsaufnahmen sind dabei die Kamerafahrten durch die Schluchten urbaner Moloche mit verwinkelten Altstädten, immer nur halbfertigen Neubaugebieten und von Plastikmüll überschwemmten Slums.

Man merkt dem Film von der ersten Minute an, dass Regisseur Karim Moussaoui alles getan hat, um eine klischeehafte Darstellung zu vermeiden, und stattdessen einen universalen Horizont eröffnet.

Mourad, der Protagonist der ersten Geschichte, hat es als Projektentwickler zu etwas gebracht. Jetzt wartet er auf den Anruf, der ihm den Zuschlag für den Bau eines Krankenhauses erteilt. Sein erwachsener Sohn, ein lustloser Medizinstudent, wohnt noch bei seiner geschiedenen ersten Frau, einer energischen, eleganten Person, die ungeduldig wird, wenn sie auf die gesellschaftlichen Entwicklungen schaut. Während Mourad mit seiner Geschiedenen in der geschmackvoll eingerichteten Altbauwohnung diskutiert, langweilt sich seine junge Ehefrau allein in ihrem großen Haus und beschließt, sich von Mourad zu trennen.

Es sind die typischen Probleme eines Angehörigen der Oberschicht, die Mourad auf seine gelassene, etwas trottelige Art bewältigen muss. In diese Welt, in der private Krisen von Wohlstand und Bildung gezähmt werden, bricht bei einer nächtlichen Autofahrt die rohe, archaische Gewalt ein. Mourad muss mitansehen, wie eine wehrlose Person von zwei Männern misshandelt wird. Statt einzugreifen oder die Polizei zu rufen, macht er sich unerkannt aus dem Staub und lässt den Verletzten am Straßenrand liegen. Die Scham über sein Versagen lässt ihm fortan keine Ruhe mehr.

Diese zuweilen recht plakative, jedoch von glaubwürdigen Figuren getragene Geschichte zeigt die Lethargie und Verwundbarkeit des algerischen Bürgertums. Völlig unvermittelt mündet sie in die zweite Erzählung: Sein junger Chauffeur bittet Mourad um ein paar freie Tage. Er soll seinen Nachbarn und dessen Tochter in eine weit entfernte Stadt kutschieren, wo das Mädchen Aïcha einen älteren Mann heiraten wird.

Der zweite Teil ist im Stil eines Roadmovie erzählt, die Reise durch die spektakuläre Berglandschaft wird zur Metapher für die Freiheitssuche der Jugend. Hier gibt es die schönsten Szenen dieses insgesamt sehenswerten Films. Im Wagen herrscht angespannte Stimmung. Unter den wachsamen Augen des Vaters belauern Aïcha und der Fahrer Djalil einander und tauschen verstohlene Blicke aus. Mit an Bord sitzt außerdem Aïchas Cousine. Das aufflackernde Begehren der jungen Leute ist also gut bewacht. Ein verdorbenes Hühnchen an einer Raststätte bringt die Wende, Vater und Cousine landen mit einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus. Nach eindringlichen Ermahnungen des entkräfteten Vaters setzen Aïcha und Djalil die Fahrt alleine fort.

Diese zweite Geschichte ist anspielungsreich inszeniert, vollgepackt mit Genrezitaten, Metaphern und Musikeinspielungen und doch mit großer Leichtigkeit erzählt. Emotionaler Höhepunkt ist die erotisch aufgeladene Tanzszene im leeren Festsaal einer Landpension. Wo sich sonst Brautpaare unter den Augen ihrer Angehörigen drehen, feiern Aïcha und Djalil ihre unwahrscheinliche Liebesgeschichte, von der man nicht erfährt, wie sie ausgehen wird. Dirty Dancing im Maghreb, wundervoll inszeniert.

Im fliegenden Wechsel der Fahrer und Protagonisten setzt der Film zur Schlussfahrt an: Dahman, ein ehrgeiziger Arzt mittleren Alters, ständig im Taxi unterwegs und noch nicht wirklich angekommen, hofft auf seine Beförderung im Krankenhaus sowie auf das Einverständnis eines geschäftstüchtigen Brautvaters, dessen Tochter heiraten zu dürfen. Man steht in Verhandlungen. Die Pläne geraten ins Stocken, als es Gerüchte über den Arzt gibt, der beschuldigt wird während des Bürgerkriegs in den neunziger Jahren an einer Gruppenvergewaltigung beteiligt gewesen zu sein. Die erzwungene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit führt ihn in die Hütte einer Frau in einem Armenviertel. Während im Hinterzimmer ein Kind auf beunruhigende Weise schreit, werden im Dialog mit der Frau die Konturen eines ungeheuren Verbrechens sichtbar. Die politische Rolle des Arztes allerdings bleibt mysteriös.

Das Erzählen in Andeutungen, das im Mittelteil so gut funktioniert, ist in der letzten und zugleich dringlichsten Geschichte über die Aufarbeitung der Gräuel in den Neunzigern problematisch. Hier ist der Zuschauer auf Spekulationen angewiesen, wo man sich Aufklärung und mehr Ausführlichkeit wünscht.

Im Grunde handelt es sich bei »En attendant les hirondelles« um einen Film, der drei Kurzfilme übereinander schichtet.

Erstaunlicherweise funktioniert diese dramaturgische Fügung sehr gut, auch wenn die Übergänge stets abrupt erfolgen. Der Schluss der dritten Geschichte eröffnet sogar noch eine neue vierte Geschichte, mit der Moussaoui einmal mehr bekräftigt, dass das algerisch-französische Kino noch viel Stoff parat hat. Nicht nur wegen des wunderbaren algerischen »Mein Baby gehört zu mir«-Moments ist zu hoffen, dass auch das junge Kinopublikum im Maghreb zumindest auf Festivals Gelegenheit haben wird, den Film zu sehen.

 

En attendant les hirondelles/Until the Birds Return/Warten auf Schwalben (F/D/Katar/Algerien 2017). Buch: Maud Ameline/Karim Moussaoui, Regie: Karim Moussaoui, Darsteller: Mohamed Djouhri, Sonia Mekkiou, Hania Amar, Mehdi Ramdani,Chawki Amari, Saadia Gacem, Hassan Kachach, Nadia Kaci, Samir El Hakim, Aure Atika. Filmstart: 23. August