თემა - Giorgi Maisuradze, Sozial- und Kulturwissenschaftler, über die georgische Techno-Szene, Identitätspolitik und Protest

»Freiheit, wo es sonst keine gab«

Giorgi Maisuradze, Professor für Philosophie und Leiter des Instituts für Sozial- und Kulturforschung an der Staatlichen Ilia-Universität in Tiflis, im Gespräch über die Politisierung der Club- und Musikszene in Tiflis, fehlende linke Kräfte und die Rolle der Orthodoxen Kirche in der Gesellschaft.
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Ist mit dem Protest nach dem Polizeieinsatz gegen den Techno-Club Bassiani und das Café Gallery am 12. Mai in Georgien eine neue so­ziale Bewegung entstanden?
Leider eher nicht. Aber der Einsatz hat vieles ausgelöst. Da kamen Menschen auch aus anderen Clubs zur Demonstration. Das hat gezeigt, wer besonders aktiv ist in Georgien: die Clubszene. Wie­so ausgerechnet die Club- und Musikszene aktiv geworden ist? Es hat zwei, drei Versuche gegeben, hier etwas »Westliches« zu übertragen. Das ein­zige, was gut funktioniert und eigenen Boden gefunden hat, waren Techno und die Clubszene. Wahrscheinlich ist es das einzige Kulturgut, das Georgien der Welt derzeit bieten kann und das auch Qualität hat.

Die ganze Protestenergie wurde genau dort konzentriert, wo sich etwas bewegt. Aber daraus wurde keine Bewegung. Die einzige politische Bewegung, die auch vorher schon zum Club Bassiani gehörte, ist White Noise Movement (siehe Small Talk Seite 23), wo man sich für die Liberalisierung der Drogenpolitik einsetzt. Die ist in Georgien äußerst repressiv, auch wenn auf dem Gebiet durchaus Fortschritte erzielt wurden.

Warum hatte ausgerechnet Techno als vermeintlich westliches Importgut in Georgien Erfolg?
Techno ist in postindustriellen Regionen entstanden, das hatte bestimmte soziale und wirtschaftliche Gründe. Nachdem in Detroit oder auch in Berlin die Industrie stillgelegt worden war, standen die Fabrikgebäude leer, zudem gab es politische Spannungen. Berlin ist ein Beispiel, wie sich die Szene gewandelt hat. In den Neunzigern lebte ich bereits in Berlin, heute haben wir in Form des Berghain beziehungsweise dieser ganzen Clubszene eine Imitation der neun­ziger Jahre. Die ursprünglichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Beweggründe gibt es nicht mehr.

In Georgien entstand die Szene nach einer jahrelangen wirtschaftlichen Krise und politischen Auseinandersetzungen. Ende der neunziger Jahre gab es hier DIY-DJs, die noch mit selbst zusammengestellten Kassetten aufgelegt haben, ohne Schallplatten oder hochwertige Geräte. Manche lebten dann in Berlin und haben diese Clubkultur mitgebracht. Wieso das hier auf so fruchtbaren Boden fiel, ist noch nicht systematisch untersucht worden, man kann da nur Vermutungen anstellen.

»Der heute in Georgien stattfindende Kulturkampf ist vergleichbar mit der Achtundsech­ziger-Revolte in den USA und Westeuropa insofern, dass es nur um die äußeren Freiheiten geht.«

Welche Vermutungen haben Sie?
Vielleicht, weil Räume entstanden sind, in denen mehr oder weniger alles erlaubt war – eine Art Freiheit, wo es sonst keine politische und wirtschaftliche Freiheit gab. Die wirtschaftliche Freiheit ab Anfang der Neunziger oder ab 2004 unter der Regierung von Micheil Saaka­schwili ging in eine radikal neoliberale Richtung – und das geht so weiter.

Waren die Proteste eher links oder eher liberal?
Die meisten dieser Jugendlichen sind sehr unpolitisch. Das ist normal, Hipster und Raver sind auch sonst nicht sehr politisch. Das ist das Grundproblem dieser sozialen Gruppen. Aber der georgischen Polizei und der Regierung ist es gelungen, diese an sich unpoli­tischen Gruppen zu politisieren.

Warum entstand trotzdem keine politische Bewegung?
Das ist paradox. Es gibt diese ehemalige Textilfabrik, die Fabrika, ein Ort, an dem gewissermaßen das neue Subjekt der neoliberalen Gesellschaft hergestellt wird. Diese neue jugendliche Kultur, die sonst von unten wächst, wird dort von oben künstlich eingepflanzt. Dem Besitzer, einem mächtigen Unternehmer, gehören neben der Fabrika die Kette der Rooms-Hotels und das bestbesuchte Lokal in Georgien.

Das Bassiani und das Café Gallery sind hingegen selbstorganisiert. Beide sind früher entstanden und waren immer berüchtigt als Versammlungsort aller »Perversen«, der Schwulen und aller, die der traditionell-konservativen Gesellschaft verdächtig erscheinen. Der wichtigste Faktor, warum diese Szene blüht, ist die innere Spaltung und Spannung der georgischen Gesellschaft. Wenn diese Spannungen irgendwann weg sind, dann ist das auch das Ende der Kunstszene, die sich als rebellisch darstellt oder danach aussieht. Aber es läuft so langsam hier, dass das mehre­re ­Jahrzehnte dauern wird.

Was sind das für Spannungen?
Die Kirche ist sehr mächtig und einflussreich, es gibt nur politisch rechte Parteien, von ultrarechts bis neoliberal, und es gibt einfach keine Alternative.

Es gibt keine relevante linke Kraft?
Überhaupt nicht.

Die Leute vom Café Gallery und Bassiani bezeichnen sich selbst durchaus als politisch. Wie würden Sie das einordnen?
Ihr Publikum ist unpolitisch, aber es gibt bestimmte Gruppen, wie die erwähnte White Noise Movement oder auch die schwul-lesbische Szene, die dort entstanden und sehr aktiv sind. Es gab vorher schon NGOs, aber die Clubs stellen für sie vor allem Freiräume dar, in denen ihre Art zu leben toleriert wird. Was sie machen, ist letztlich Identitätspolitik.

Insbesondere die Gruppe White Noise Movement hat links orientierte Vorstellungen von sozialer Politik. Vor zwei Jahren wurde ein Jugendlicher auf dem Land von einem Polizisten misshandelt und beging anschließend Selbstmord. Dass die Öffentlichkeit davon ­erfahren hat, war das Verdienst dieser Bewegung. Sonst wäre alles verheimlicht worden. Man kann also durchaus sagen, dass es eine soziale Einfärbung gibt. Paradoxerweise ist aber diese Jugendkultur und die Hipster-Szene, ­
die sehr viel jünger ist als etwa die in Berlin, oft rechts.

Sprechen Sie von der Partei New Political Center, der Girchi-Bewegung, deren Anhänger sich als Hipster geben? Was hat es mit dieser auf sich?
Ich würde sie als eine semireligiöse Bewegung bezeichnen, obwohl sie sich als religionskritisch versteht. Der Markt ist für sie eine Gottheit. Das ist die Folge der Politik seit 2004. Ein mächtiger Oligarch, Kacha Bendukidse, der unter Saakaschwilis Regierung Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident war und neoliberale Wirtschaftsreformen angestoßen und um­gesetzt hat, hat etwa auch die Agraruniversität privatisiert und praktisch alle agrarwirtschaftlichen Fächer abgeschafft. Jetzt werden dort hauptsächlich Kochkunst und Lebensmitteltechnologie gelehrt, man lernt, wie man ­Lebensmittel künstlich und mit Genmanipulation herstellen kann. Die Freie Universität gehörte ebenfalls Bendu­kidse. Diese Institutionen folgen einer und lehren eine Doktrin des freien Marktes. Da wurde eine ganze ­Generation herangezogen in dem Bewusstsein, dass ­alles Soziale Schmarotzertum ist. Ich kann eine Aussage von einem der führenden Köpfe dieser Girchi-Bewegung wiedergeben: »Wenn ich Geld habe, bedeutet das, dass die Gesellschaft mir etwas schuldet.« So einen Unsinn kann man weder politisch noch ökonomisch rechtfertigen. Die Studien­gebühren sind sehr hoch, obwohl das Durchschnittseinkommen in Georgien sehr gering ist. Wenn man für den Schwachsinn, der dort gelehrt wird, so viel zahlt, fühlt man sich als fortschrittlich und westlich.

Was bedeutet in diesem Fall »westlich«?
Es gibt vor allem westlich orientierte Parteien im Parlament. Das Bild vom Westen und von Europa ist, dass es keinerlei staatliche Regulierung, sondern die absolute und uneingeschränkte Marktwirtschaft gibt. Aber selbst in den USA gibt es sehr viel mehr Regulierung als hier. Wenn man sich den totalen Sieg des Neoliberalismus vorstellen möchte, ist Georgien ein sehr viel besseres Beispiel als etwa Deutschland oder Frankreich. Es gibt überhaupt keinen Sozialstaat mehr.

Haben die Anhänger der Girchi-Bewegung sich selbst zusammengefunden oder standen da auch Oli­garchen dahinter?
Es gibt Spekulationen über die Girchi-Bewegung. Der Begründer war ehemals Mitglied der Partei Saakaschwilis. Man sagt, Iwanischwili habe ihn angeworben. Es ist seltsam, dass eines Tages so eine seltsame Partei gegründet wurde und sehr gut finanziert wird.

Ist das eher eine urbane Bewegung?
Die ist rein urban. Die Bevölkerung auf dem Land kann sich dafür kaum interessieren. Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist riesig. Das sind zwei Welten. Die Gesellschaft war schon in der sowjetischen Zeit so, es geht hier sehr hierarchisch zu: Wenn man nicht einmal die mittlere Stufe der Hierarchie erreicht hat, dann hat man praktisch keine Chance.

Es gibt die These, die orthodoxe Kirche habe die soziale und ideolo­gische Rolle der Kommunistischen Partei übernommen. Würden Sie das auch so sehen?
Nicht die soziale Rolle, aber eindeutig die ideologische. Die sowjetische Ideologie war diskreditiert. Das begann schon vor einigen Jahrzehnten, eigentlich mit Stalins Tod. Unter Chruschtschow nahm die Korruption bereits maß­lose Züge an. Dadurch ist auch ein starker Nihilismus entstanden und ein ideologisches Vakuum. Diese Lücke sollte dann die Orthodoxie einnehmen. Angestoßen wurde diese Entwicklung aber weniger von der Kirche als von den nationalen Bewegungen. Sie entwickelten einen hybriden Nationa­lismus in dem Sinne, dass sie gleichzeitig nationalistisch und religiös war.

Die Kirche ist vor allen Dingen eine wirtschaftliche Organisation, ein riesiger Konzern, der alles einsaugt und nichts mehr zurückgibt.

Die Kirche ist Großeigentümer geworden an Land und Immobilien. Diesen Besitz bekommt sie als Bestechung vom Staat.

Saakaschwili hat damit angefangen, um sie zu besänftigen. Die orthodoxe Kirche ist ein bisschen wie die italienische Mafia. Sie zahlt keine Steuern und ihre Geschäfte werden seit Anfang der neunziger Jahre von niemandem kontrolliert. Es ist eine wirtschaftskriminelle Institution. Ehemalige Kriminelle sind heute hochrangige Würdenträger.

Gibt es im heutigen Georgien eine Sowjetnostalgie?
Mein Institut hat auf dem Land ältere Leute befragt, die in der sowjetischen Zeit gearbeitet haben. Georgien war damals wirtschaftlich gesehen ein Spitzenreiter, sowohl landwirtschaftlich als auch industriell. Die Befragten behaupteten, ein Flug von Tiflis nach Moskau und zurück habe damals 37 Rubel gekostet. Das konnte jeder bezahlen. Jetzt, so sagten sie, könnten sie sich nicht einmal mehr eine Fahrt von fünf Kilometern mit dem Minibus leisten. Sie hatten einen Beruf, Arbeit, Einkommen, Prämien – es ging ihnen gut. Seitdem hat niemand diesen Menschen geholfen und Interesse für Bauern, Land- oder Fabrikarbeiter gezeigt. Meinungsfreiheit oder die Freiheit, die sexuelle Identität auszuleben, sind diesen Menschen egal. Das ist ein Luxus der städtischen Mittelschicht, die sich ihr Alltagsleben leisten kann. Denjenigen, die teilweise noch hungrig sind, kann man schlecht diese bürgerlichen Freiheiten als Entschädigung anbieten.

War das, was sich am 12. Mai geäußert hat, ein Kulturkampf zwischen konservativem und antiautoritären Kräften, die wieder mehr Politik und Soziales wollen?
Das Zweite müssen wir weglassen. Kultur schon, weil es keinen anderen Platz mehr für sie gibt. Der heute in Georgien stattfindende Kulturkampf ist vergleichbar mit der Achtundsech­ziger-Revolte in den USA und Westeuropa insofern, dass es nur um die äußeren Freiheiten geht. Foucault hat einmal gesagt, die sexuelle Revolution habe stattgefunden, um die soziale Revolution zu vermeiden. Alle sprechen von Freiheitsrechten, aber nicht vom ökonomischen und sozialen Hintergrund. Wenn eine kleine Gruppe links orientierter Studierender zugunsten der Bergarbeiter protestiert oder weil Bauarbeiter wegen mangelnder Arbeitssicherheit zu Tode gekommen sind, kommen etwa 20 bis 30 Menschen. Aber wenn es um sexuelle Freiheit, Drogenkonsum oder die Freiheit zu feiern geht, kommen sehr viele. Der Neolibe­ralismus zerstört die sozialen und ethischen Grundlagen der modernen Gesellschaft. Was übrig bleibt, ist eine »Gemeinschaft des Blutes« – der Grundstein aller Rechtsextremen.