Gvantsa Khonelidze und Ninka Khaindrava, Leiterinnen der NGO »Women’s Gaze«, im Gespräch über Feminismus und die Lage von Frauen in Georgien

»Wir sind in der Minderheit«

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Interview Von

Das Jungfräulichkeitsdogma geht so weit, dass es sogar »Revirginisierungsoperationen« gibt. Wie ­gefragt sind diese heutzutage in ­Georgien?
Khaindrava: Statistiken zufolge sind das neben Nasenkorrekturen die beliebtesten Operationen in Georgien. Und sie sind wirklich günstig, etwa 70 US-Dollar. Ich sehe auf Facebook immer die Anzeigen dafür: Revirginisierung im Angebot!
Khonelidze: Es gibt dieses »Jungfraueninstitut«. Manchmal gehen Mütter dort mit den Verlobten oder Freundinnen ihrer Söhne hin, um sie unter­suchen zu lassen, ob sie noch Jungfrau sind. So etwas lässt sich jedoch nicht feststellen, das ist Betrug. Aber manche Feministinnen begegnen Kritik an den »Revirginisierungsoperationen« mit dem Einwand, dass diese dann klandestin weitergehen würden.
Khaindrava: Vor kurzem hat sich eine 16jährige umgebracht, weil ein Junge sie damit erpresst hatte, Nacktbilder, die sie ihm geschickt hatte, an ihre Eltern zu schicken. Er zwang sie dazu, mit ihm Sex zu haben. In ihrem Abschiedsbrief schrieb sie: Es tut mir leid, Mama, es war die einzige Entscheidung, die sich mir bot.

Gab es danach feministische Proteste?
Khaindrava: Auf eine Art ja, aber die feministische Bewegung hier ist sehr NGO-nah. Sie haben ihre Projekte und Berichte, um die Regierung zu Gesetzen zu zwingen. Aber es gibt keine authen­tische feministische Basisbewegung.
Khonelidze: Sie sind konformistisch. Sie demonstrieren auf der Straße für Quoten im Parlament. Aber Themen wie Sexualität sind nicht wichtig genug für sie, um auf die Straße zu gehen.

Wie sieht es mit dem Recht auf Abtreibung aus?
Khaindrava: Abbrüche sind bis zur 12. Schwangerschaftswoche legal, aber viele Kliniken wollen sie nicht ausführen. Die Frauen werden dafür moralisch stark verurteilt, auch von den Ärzten.
Khonelidze: Wenn eine Frau im Krankenhaus eine Abtreibung vornehmen lassen will, geht das nicht sofort. Man gibt ihr fünf Tage Bedenkzeit und schickt sie nach Hause. Das ist ins­besondere für Frauen aus den ländlichen ­Regionen schwierig. Viele kommen nicht mehr zurück, weil sie unter ­großem Druck stehen.
Khaindrava: Die Kliniken gibt es meist nur in größeren Zentren. Für viele Frauen ist es nicht möglich, nach ein paar Tagen nochmal zu kommen, weil sie von ihren Männern abhängig sind.
Viele Männer verbieten ihren Frauen auch zu verhüten. Diese nehmen dann heimlich Verhütungsmittel. Manche sehen selbst das als Form von Abtreibung an, da die Kirche Verhütung nicht gutheißt. Der Zugang zu Verhütungsmitteln ist schwierig.

Es gibt Berichte über die gezielte Abtreibung weiblicher Föten. Wie weit ist diese Praxis verbreitet?
Khaindrava: Das ist immer noch ein Problem. Ein Junge gilt als richtiges Kind, ein Mädchen nicht so wirklich. Die Zahl solcher Abtreibungen war sehr hoch. Daher hat die Regierung veranlasst, dass das Geschlecht des Fötus erst ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat bekanntgegeben werden darf. Aber private Kliniken machen das immer noch.

Welche Unterschiede gibt es zwischen Stadt und Land bezüglich häuslicher Gewalt?
Khaindrava: In Tiflis gibt es die meisten registrierten Fälle. Aber auf dem Land wird einfach nicht darüber geredet. Das ist eine kulturelle Sache, dass Probleme in der Familie nicht nach außen dringen dürfen. Dort, wo ich herkomme, in Mingrelien, sind Männer sehr gewalt­tätig, aber das taucht in den Statistiken nicht auf. Man ruft nicht die Polizei. Sogar jetzt, wenn eine Frau die Polizei ruft, weil ihr Mann sie schlägt, kann es sein, dass die Polizisten das nicht ernst nehmen.
Khonelidze: Sie sagen der Frau: Komm schon, vergib ihm, er macht das nie wieder. Eine Art männliche Solidarität, denn auch viele Polizisten schlagen ihre Frauen. Vor kurzem hat ein Polizist seine Ex-Frau und deren Mann umgebracht. Seit einigen Monaten gibt es nun dieses Gesetz, dass ein Polizist, wenn er als ­gewalttätig registriert wurde, seinen Beruf nicht weiterführen darf.

Wie hat sich die Lage von Frauen im Vergleich zur Generation Ihrer Mütter geändert?
Khaindrava: Nach dem Krieg, als viele Männer gestorben waren und die wirtschaftliche und soziale Lage katastrophal war – es gab oft keinen Strom, kein Wasser –, waren es oft die Frauen, die für die Familien sorgten. Viele arbeiteten im Ausland als Hausangestellte, im Pflegebereich und so weiter. Man konnte den Fortschritt merken, als viele dieser Frauen wieder zurückkamen.
Khonelidze: Wir haben heute Zugang zu mehr Information, die Technologie und der Kapitalismus blühen und es gibt mehr kognitive Arbeit. Aber es gab diese Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, der zufolge diese Generation konservativer und nationalistischer ist und häufiger in die Kirche geht als unsere Eltern und Großeltern.

Wie sieht es mit der Zusammenarbeit mit älteren Feministinnen aus?
Khaindrava: Als wir unsere Arbeit als Gruppe begannen, hatten wir einige Konflikte mit ihnen. Sie waren uns zu ­liberal, im Sinne Hillary Clintons, sie fordern, dass mehr Frauen als CEOs arbeiten sollen und Ähnliches. Aber dann merkten wir, dass wir wenige Verbündete haben. Wir haben schlechte Erfah­rungen mit linken Männern gemacht, die uns als »separatistische Lesben« beschimpften, als wir damals eine eigene Frauengruppe gründeten, um feministische Themen zu diskutieren. Jetzt ver­suchen wir, stärker mit den anderen Feministinnen zusammenzuarbeiten, auch wenn es manchmal Streitpunkte gibt.
Khonelidze: Es gibt eine Facebook-Gruppe mit rund 2 200 Mitgliedern, in der wir feministische Themen und Aktionen diskutieren. Da hatte sich vor drei Jahren einmal eine Frau über die Arbeit ­ihrer Babysitterin beschwert. Wir haben gefordert, dass mehr über die Rechte von Hausangestellten diskutiert und Sorgearbeit anerkannt werden sollte. Manche wurden dann sehr aggressiv und dachten, wir seien gegen Babysitter.