Fall Skripal - Die britische Staatsanwaltschaft hat zwei Russen als Tatverdächtige identifiziert

Gift im Parfümflakon

Den Ermittlungergebnissen der britischen Polizei zufolge steckt der russische Militärgeheimdient mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter dem Mordversuch an dem ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal auf britischem Boden.

Eine beschauliche kleine Stadt mit großer Kathedrale nahe Stonehenge im Südwesten Englands, ein Mordfall, ein mit Gift versetzter Parfümflakon und zwei russische Agenten, die mit dem Zug anreisten – das wäre Stoff für einen klassischen Thriller, doch es handelt sich um einen echten Kriminalfall in Großbritannien. Obwohl vorerst noch einiges ungeklärt bleibt, lässt sich eines mit ziemlicher Sicherheit sagen: Die russische Regierung genehmigte den Mordanschalg auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia in der Stadt Salisbury mit dem Nervengift Nowitschok und verursachte den Tod einer Britin. Die bisherigen Vermutungen der britischen Regierung bezüglich der Beteiligung Russlands wurden bestätigt.

Was war passiert? Am Nachmittag des 4. März, einem Sonntag, kollabierten die russischen Staatsangehörigen Sergej und Julia Skripal auf einer Bank in der historischen Altstadt in Salis­bury. Die Polizei reagierte auf Anrufe von Zeugen und veranlasste den Transport der Skripals in ein nahegelegenes Krankenhaus. Bald stellte sich heraus, dass sie mit dem Nervengift Nowitschok in Berührung gekommen waren. Auch der Po­lizist Nick Bailey war, während er den Skripals half, dem Gift ausgesetzt und musste ebenfalls ärztlich behandelt werden. All drei erholten sich nach langem Krankenhausaufenthalt.

Der Vorfall löste eine internationale diplomatische Krise aus. Zahlreiche russische Diplomaten wurden aus Großbritannien ausgewiesen. Die russische Regierung bestritt von Anfang an jegliche Beteiligung und reagierte mit der Ausweisung britischer Diplomaten aus Russland. Da Kanada, Deutschland, die USA und Frankreich sich mit Großbritannien solidarisch erklärten und von Russland die vollständige Aufklärung des Vorfalls forderten, erging es den Vertretern dieser Staaten ähnlich. Die britische Regierung habe den Mordversuch inszeniert, um von den erfolglosen Verhandlungen über den britischen EU-Austritt abzulenken, behauptete der russische Außenminister Sergej Lawrow. Nikolaj Kowaljow, ehemaliger Leiter des russischen Inlandsgeheimdienst FSB, behauptete, dass es nur ein bösartiger Wissenschaftler des nahe Salisbury gelegenen Labors Porton Down gewesen sein könne, der Experimente an der englischen Bevölkerung durchführe.

Die bisher vorliegenden Indizien sprechen jedoch dafür, dass der russische Militärgeheimdienst (GRU) den Anschlag geplant und ausgeführt hat. Sechs Monate lang ermittelten die ­britischen Behörden. Durch Aufnahmen von Überwachungskameras wurden nicht nur die Bewegungen der Skripals rekonstruiert, sondern auch die mög­licher Tatverdächtiger. Zwei Agenten des GRU, laut ihren Pässen Alexander Petrow und Ruslan Boschirow, sollen für den Giftanschlag verantwortlich sein, wie nun bekannt wurde. Beide sind um die 40 Jahre alt und reisen unter Decknamen. In der Umgebung ihrer offiziellen Anschrift scheint sie niemand zu kennen, ihre Passnummern gleichen sich bis auf eine Ziffer.

Die Skripals überlebten den Anschlag, doch im Juli 2018 starb die 44jährige Dawn Sturgess im nahegelegenen Amesbury an einer Nowitschok-Vergiftung.

Den Ermittlern zufolge reisten die beiden am 2. März mit der Fluggesellschaft Aeroflot von Moskau nach London-Gatwick. Nach einer Übernachtung im City Stay Hotel im Osten Londons nahmen die beiden am 3. März einen Zug nach Salisbury, wahrscheinlich für einen Erkundungsgang. Gegen Abend kehrten sie nach London zurück. Am Mittag des nächsten Tages trafen sie erneut in Salisbury ein, Bilder von Überwachungskameras zeigen sie in der Nähe von Sergej Skripals Haus. Das Nervengift war an die Haustür gesprüht worden; wie sich nun herausstellte, mit einem gefälschten Probefläschchen des Parfüms »Premier Jour« von Nina Ricci. Die beiden Agenten machten sich daraufhin auf den Weg zurück nach Moskau. Sie hatten Rückflugtickets für den 4. und 5. März gekauft – wohl für den Fall, dass etwas Ungeplantes dazwischenkommt.

Zur selben Zeit, als Petrow und Boschirow auf ihrer Erkundungstour in Salisbury ihren Anschlag vorbereitet haben sollen, stieg die 33jährige Julia Skripal in Moskau in ein Flugzeug mit Ziel London-Heathrow. Sie wollte ihren Vater Sergej Skripal besuchen. Dieser ist ein ehemaliger GRU-Mitarbeiter, dem Russland vorwirft, Staatsgeheimnisse an Großbritannien verkauft zu haben. Bevor Sergej Skripal sich in ­Salisbury niederließ, hatte er nach einer Verurteilung wegen Hochverrats Jahre in einem russischen Arbeitslager verbracht, 2010 wurde er allerdings ­begnadigt.

 

Am 4. März fuhren die Skripals mit Sergejs BMW in die Altstadt von Salisbury. Gegen Mittag besuchten sie den Pub »The Mill« und aßen danach in einem Restaurant der Kette »Zizzi«. Als sie gegen 15.35 Uhr das Restaurant verließen, schafften sie es noch bis zu ­einer Parkbank in der Nähe, bevor sie dort zusammenbrachen. Zunächst mutmaßte die Polizei, dass sie sich im Restaurant mit kontaminiertem Essen vergiftet hatten. Erst nach der Untersuchung des Hauses von Sergej Skripal und der Rekonstruktion seines Tagesablaufs stellte sich heraus, dass sich Spuren von Nowitschok auch im Pub, im Parkhaus, wo Skripal das Auto abstellte, auf der Parkbank und in der Am­bulanz des Krankenhauses fanden – an allen Orten, an denen die Skripals sich am 4. März aufhielten. Sowohl das Restaurant als auch Geschäfte nahe der Parkbank blieben teilweise monatelang geschlossen, bis die Reinigungsarbeiten abgeschlossen waren.

Durch den Einsatz von Nowitschok gefährdeten die Attentäter auch die ­Bevölkerung Salisburys. Die Skripals überlebten den Anschlag, doch im Juli 2018 starb die 44jährige Dawn Sturgess im nahegelegenen Amesbury an einer Nowitschok-Vergiftung. Erst durch diesen Vorfall fand die Polizei heraus, dass das Gift in einem gefälschten Parfümflakon transportiert und verbreitet worden war. Zwar waren alle von den Skripals besuchten Orte dekontaminiert worden, doch den giftigen Flakon scheinen die Attentäter achtlos weggeworfen zu haben. Sturgess und ihr Partner Charlie Rowley kamen mit dem Gift in Berührung, weil Rowley den Flakon in einer Schachtel in einem Altkleider-Container gefunden hatte. Rowley gab an, den zweiteiligen Parfümflakon am 30. Juni zusammengesteckt zu haben. Dabei bekam er etwas von dem Gift ab. Sturgess sprühte sich kurz darauf das Gift auf ihr Handgelenk und brach zusammen. Im Juli starb sie an den Folgen der Vergiftung. Rowley befindet sich immer noch in einem kritischen Zustand.

Der Angriff sei eine »direkte Kampfansage« an das System internationaler Regeln, das »uns alle seit 1945 geschützt hat«, sagte die britische UN-Botschafterin Karen Pierce. Für Premierministerin Theresa May handelt es sich um einen feindlichen Akt. Sie kündigte nicht nur an, für weitere Sanktionen gegen Russland zu werben. Sie will auch alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel des nationalen Sicherheitsapparats einsetzen, um weitere feindliche Akti­vitäten Russlands aufzudecken. Russland bestreitet, dass Petrow und Boschirow dem Geheimdienst angehören. Der russische UN-Botschafter Wassilij Nebensja bezeichnete Mays Reaktion und die derzeitige britische Medienberichterstattung über die Nowitschok-Affäre als russophobe Propaganda.

Viel hat die russische Regierung wohl nicht zu befürchten. Aufgrund des bevorstehenden EU-Austritts ist Großbritannien mehr denn je darauf angewiesen, Anlegern, nicht zuletzt russischen Oligarchen, einen safe haven für ihr Geld und ihre nicht immer sauberen Geschäfte zu bieten.