Small Talk mit Sigga Waleng von der »Ferienuniversität Kritische Psychologie«

»Keine Reiz-Reaktions-Maschine«

Am Wochenende fand zum elften Mal die »Ferienuniversität ­Kritische Psychologie« in Berlin statt. Sigga Waleng gehört zum Vorbereitungsteam des Kongresses und hat mit der Jungle World ­gesprochen.
Small Talk Von

Sie haben die mittlerweile elfte Ferienuniversität veranstaltet. Steht es um die Psychologie so schlecht, dass die Ferien aus­fallen müssen?
Die Kritische Psychologie wurde im Verlauf der sechziger Jahre nicht nur als eine Kritik der Psychologie, sondern als eine eigenständige marxistische Subjektwissenschaft entwickelt. Seit den achtziger Jahren werden Ferienuniversitäten studentisch selbstorganisiert, da die Kritische Psychologie im akademischen Curriculum so gut wie nicht repräsentiert war. Die Grundidee der Ferienuniversität war und ist, zumindest fünf Tage lang so zu studieren, wie wir uns unser Studium eigentlich gewünscht hätten. Wir versuchen, einen Raum zu schaffen, in dem sowohl Grundlagenwissen über Kritische Psychologie vermittelt wird als auch neue kritisch-psychologische Forschungsprojekte und aktuelle Weiterentwicklungen diskutiert werden können.

Was hatte es mit dem Titel »Ask Them Why« auf sich?
Er spielt auf die kritisch-psychologische Auffassung an, dass Menschen begründet handeln und man sie nach ihren Prämissen und Gründen fragen muss, wenn man ihr Handeln verstehen möchte. Daran schließt die Vorstellung einer Psychologie an, die mit den Menschen forscht, statt sie zu beforschen. Die Kritische Psycholo­­gie grenzt sich damit von einem reduktionistisch-deterministischen Verständnis ab, das den Menschen als Reiz-Reaktions-Maschine versteht. Menschen handeln nicht – wie in der Mainstream-Psychologie häufig der Anschein vermittelt wird – im luftleeren Raum, sondern auf begründete Weise innerhalb konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Die Bedeutung der Neurowissenschaften für die Psychologie ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Was die neurowissenschaftliche Forschung zu erklären verspricht, kann sie nicht erfüllen. Nur weil ich weiß, in welcher Gehirnregion besonders viel Sauerstoff verbraucht wird, während ein Mensch sich etwas vorstellt, weiß ich nicht mehr über das Vorstellen an sich. Außerdem verstärken sich durch den Verweis auf neuronale Grundlagen bestimmte Tendenzen, die es in der Psychologie ohnehin gibt, beispielswiese die, gesellschaftliche Verhältnisse zu bio­logisieren und damit zu ­naturalisieren. So werden Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf »weibliche Gehirne« zurückgeführt und die Ursachen psychischer Erkrankungen im Gehirn gesucht, anstatt zu fragen, wie Er­fahrungen von Machtlosigkeit und Ausgrenzung subjektiv gute Gründe liefern können, sich depressiv zu fühlen.

Stützt die Mainstream-Psychologie so die Verhältnisse?
Ein großes Problem der bürgerlichen Psychologie ist, dass sie keinen Begriff von Gesellschaft hat. Daraus ergibt sich das Problem, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Naturzustand verklärt werden. Es wird davon ausgegangen, wertfreie und neutrale Wissenschaft zu betreiben. Wir würden daher nicht sagen, dass sich die Psychologie erst kürzlich zu einem Instrument des Kapitalismus entwickelt hat. Aufgrund ihres fehlenden Verständnisses gesellschaftlicher Grundlagen war sie dies schon immer. Therapeutinnen und Therapeuten nehmen in den bestehenden Verhältnissen immer eine widersprüchliche Rolle ein. Auf der einen Seite können sie effektiv Leid minimieren, auf der anderen Seite haben sie eine ­affirmative Rolle, die häufig nicht reflektiert wird.