Im Dokumentarfilm »A Woman Captured« folgt die Kamera einer Haussklavin

Ein Kampf um Freiheit und Würde

Der außergewöhnliche Dokumentarfilm »A Woman Captured« begleitet den heroischen Weg einer zur Haussklavin degradierten Frau aus der Gefangenschaft in die Freiheit einer bürgerlichen ­Existenz.

Unsichtbarkeit ist Merkmal und ­Voraussetzung moderner Sklavenarbeit. Offiziell verboten und gesellschaftlich geächtet, findet sie dort statt, wo niemand hinsieht. Auch deshalb ist der beobachtende, abendfüllende Dokumentarfilm »A Woman Captured« über die gnadenlose Ausbeutung einer 52jährigen Frau in einem wohlhabenden Haushalt in der ungarischen Provinz so außer­gewöhnlich.

Zwei Jahre lang begleitete die un­garische Filmemacherin und Kamera­frau Bernadett Tuza-Ritter den beklemmenden Alltag von »Marish«, von der man später erfährt, dass sie ganz anders heißt; Marish ist nur ihr Sklavenname – eine von vielen schockierenden Offenbarungen vor laufender Kamera. Gefilmt werden durfte im Haus der Sklavenhalter­familie unter der Bedingung, dass die Kamera nur auf Marish gerichtet ist und die anderen im Haushalt lebenden Personen nicht gezeigt werden. Manchmal erkennt man die Umrisse einer Person im Zimmer, einmal werden die Hände der Hausherrin gefilmt. Im Off-Ton hört man zu Beginn, wie die anonym und unsichtbar bleibende Hausherrin »Eta« mit Tuza-Ritter über die erlaubten Kameraeinstellungen verhandelt.

Die Kamera konzentriert sich auf die Stimmung und den emotionalen Zustand der Protagonistin, die nach Jahren der menschen­unwürdigen Behandlung aus dem psychologischen wie ökonomischen Gefängnis entfliehen kann. Mit viel Gespür für die prekäre Situation wandelt der Film auf dem schmalen Grat zwischen unzulässigem und notwendigem Zeigen menschlichen Leids.

Seit zehn Jahren wohnt und arbeitet die abgemagerte und deutlich vorgealterte Ungarin im Haushalt der wohlhabenden Eta. In dem opulent, aber lieblos eingerichteten Haus, das niemals von außen zu sehen ist, ­leben außerdem die beiden Söhne der verwitweten Hausherrin. Zum Personal gehören noch zwei Männer, die sich um den Hof und die Tiere kümmern. Marish muss putzen, waschen, kochen, servieren; sie füttert die Gänse und reicht der Frau das Feuerzeug an. Vor dem Tod von Etas Ehemann sei alles nur halb so schlimm gewesen, sagt sie.

Neben dem Dienst im Haus ar­beitet sie in einer nahegelegenen Fabrik. Todmüde setzt sie sich in den Zug und fährt zur Arbeit. Ihren Lohn liefert sie bei der Hausherrin ab. Aus Angst und Scham hält sie gegenüber Vorgesetzten und Arbeitern die menschenunwürdigen Lebensumstände geheim. Der Filmemacherin, die mehr und mehr zu ihrer Vertrauten und Mentorin wird, offenbart sie sich und erzählt, dass sie geschlagen werde.

Der Ton, in dem sie angeredet wird, ist barsch. Ständig muss sie sich Herabsetzungen und Unterstellungen gefallen lassen. Mal ist der Hausfrau der Kaffee zu süß. Marish antwortet, sie habe den Kaffee gar nicht gezuckert, begütigend spricht sie die gereizte Frau an und nennt sie liebevoll »mein Schatz«. Mal wird sie für ein zerbrochenes Glas aus­geschimpft, das der jüngere Sohn fallengelassen hat. Die Gescholtene ist die demütigende Behandlung gewohnt und hat doch ein feines Gespür für die Unwürdigkeit der Situa­tion und das Unwohlsein der Filmemacherin, die oft nicht weiß, ob sie die Misshandlungen aufzeichnen soll oder nicht.

Marish ermuntert Tuza-Ritter, die Kamera auch in solchen Situationen laufen zu lassen, um der Welt zu zeigen, wie man mit ihr umgeht. Man merkt, wie sich die zur Haushaltssklavin degradierte Frau durch die Anwesenheit der Filmemacherin ermutigt fühlt, ihr Leben wieder in die eigenen Hände zu nehmen, und beginnt, ihre Flucht aus der Knechtschaft zu planen – im Schutz der Kamera, die Öffentlichkeit herstellt.

In Kontakt mit Eta kam Tuza-Ritter zufällig. Die Frau habe damit an­gegeben, dass sie zu Hause eine Dienerschaft habe und nichts tun müsse. Für einen dokumentarischen Kurzfilm zu dem Thema »Ein Tag im Leben einer Person« fragte Tuza-Ritter, damals noch Filmstudentin, bei Eta an, ob sie ihre Hausangestellte filmen könne. »Damals war mir nicht klar, dass ich ein Haus betrat, in dem moderne Sklaverei stattfand, da ich das Phänomen nicht wirklich begriff«, schreibt Tuza-Ritter im Presseheft. Zunächst sei sie nett, bald aber aggressiv behandelt worden. Als sie begreift, dass sie es mit Kriminellen zu tun hat und Marish keine Hausangestellte, sondern ein Opfer ist, überlegt sie, die Polizei einzuschalten. Marish erwartet sich von den Behörden jedoch keine Hilfe, sondern befürchtet, dass die Kontaktaufnahme mit der Polizei ihre Situation nur noch verschlimmern würde. »Mir blieb nichts anderes übrig, als sie weiter aufzusuchen. Deshalb bat ich um mehr Drehzeit, wofür Eta am Ende sogar noch Geld verlangte.«

Es gibt in dem Film ein einziges Interview mit Eta. Die Kamera fängt während des Gesprächs nur die Hände der Frau ein und zeigt ihre dicklichen Finger mit grell lackierten Nägeln. Eta verteidigt auf unverschämte Weise das Sklavensystem. Sie behalte den Lohn ein, gewähre aber im Gegenzug Kost und Logis, sogar Kaffee und Zigarettentabak dürfe sich das Personal nach Belieben nehmen. Marish enthüllt im Gespräch mit Tuza-Ritter den Kern ihrer Abhängigkeit. Man hat ihre Papiere konfisziert und sie gezwungen, ihre Unterschrift unter einen Kreditvertrag zu setzen, durch den sie ihre ökonomische Unabhängigkeit verloren hat.

Der vielfach ausgezeichnete Film, der unter anderem beim Sundance Festival gezeigt wurde und den Publikumspreis beim Frauenfilmfestival Köln/Dortmund erhalten hat, beruht auf der nicht unproblematischen Komplizenschaft dreier ungleicher Frauen. Die Intimität, die der düstere Film durch seine vielen Großaufnahmen von Marishs müdem Gesicht und ihren in Halbtotalen gezeigten alltäglichen Verrichtungen herstellt, ist auch Ergebnis einer Vereinbarung, die die Klandestinität der Sklavenhalterfamilie wahrt und immer nur einen Ausschnitt zeigt, aber nie das ganze Bild. Zum Arrangement, auf das sich Tuza-Ritter, Marish und Eta geeinigt haben, gehört, dass die Filmemacherin darauf verzichtet, weitere Recherchen im Umfeld der verbrecherischen Familie über mögliche Hintermänner wie Kreditvermittler und Schlägertrupps anzustellen. Die Kamera konzentriert sich auf die Stimmung und den emotionalen Zustand der Protagonistin, die nach Jahren der menschenunwürdigen Behandlung aus dem psychologischen wie ökonomischen Gefängnis entfliehen kann. Mit viel Gespür für die prekäre Situation wandelt der Film auf dem schmalen Grat zwischen unzulässigem und notwendigem Zeigen menschlichen Leids.

Die Dringlichkeit des Problems belegt der Global Slavery Index (GSI) von 2014. Diesem zufolge leben in Ungarn 35 600 Menschen in moderner Sklaverei. In Europa sind es 0,56 Millionen, davon 185 000 in der Türkei, 37 900 in Tschechien. In Deutschland gibt es rund 10 500 Personen, die als Sklaven gelten, weltweit sind es mehr als 35,8 Millionen. Die häufigste Form moderner Sklaverei ist die Schuldknechtschaft. Die größten gemeinsamen Nenner der Opfergruppen sind Armut, geringe Qualifikation und Perspektivlosigkeit.

Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten ­Nationen (ILO) zufolge sind 55 Prozent der Opfer weiblich, etwa 26 Prozent sind Kinder. Von Prostitution sind zu 98 Prozent Frauen und Mädchen betroffen, von Zwangsarbeit zu 60 Prozent Männer.
Im Film gibt es vorläufig ein zu Herzen gehendes Happy-End. Der bisweilen an das Märchen vom Aschenputtel erinnernde Schlussteil des Films zeigt die Schritte, die Marish unternimmt, um die entrechtete Existenz gegen eine bürgerliche einzutauschen. Aus Marish wird wieder eine Frau, die sich zu ihrem bürgerlichen Namen Edit bekennen kann, eine Frau, die sich schminkt, von einem Mann schwärmt und eine eigene Wohnung hat. Dabei kommen ihr vor allem glückliche private Fügungen zu Hilfe. Die staatlichen Unterstützungsangebote dagegen, auch das wird im Film deutlich, sind völlig unzureichend. Weil sie kein Opfer familiärer Gewalt ist, hat man Marish selbst beim Frauennotruf­telefon abgewiesen. Auf die Nöte einer Sklavin ist die Gesellschaft nicht vorbereitet.  

 

A Woman Captured – Eine gefangene Frau. Dokumentation von Bernadett Tuza-Ritter. Kinostart: 11. Oktober