Chris Imlers neues Album »Maschinen und Tiere«

Musik für die Überbezahlten

Dem Tausendsassa Chris Imler ist mit »Maschinen und Tiere« ein hypnotisches Album gelungen, das der Tauglichkeit für die Charts immer wieder gekonnt entkommt.

Chris Imler ist wahrscheinlich der höflichste Mensch Berlins. Liegt das daran, dass er Augsburg sehr jung, aber nicht zu jung verlassen hat und ihn somit weder die »Heimat« noch die Stadt Berlin verderben konnten? Zum Interviewtermin jedenfalls verspätet er sich, ruft aber an und entschuldigt sich vielmals dafür, dass er einige Minuten später kommen wird. Als ich meine, eine Viertelstunde sei doch normal, sagt er: »Ich weiß ja nicht, wie pünktlich du bist.« Das ist nicht belehrend, daraus spricht die Sorge um den anderen, die Sorge, dass man ihn vergrämen könnte.

Imler kennt man in Berlin: Der stets gepflegte Mann mit dem Goldzahn ist eine wahrhafte Erscheinung. Er hat in nahezu allen Bands gespielt, zumindest in den interessanten. Er war Schlagzeuger der Golden Showers, er ist es bei den Türen, er bereicherte die Musik von Peaches, Andreas Spechtl, Jens Friebe, Felix Kubin und Maximilian Hecker, und nur die, die sich nicht für Musik interessieren, können das für verwunderlich halten. Denn bei der Auswahl und Bandbreite seiner Musikkollaborationen geht es nicht um genreübergreifende Musikgeschmäcker, sondern um Haltung. Haltung, die sich in Musik ausdrückt.

Für mitsingbare Songs und klare Aufforderungen sind andere zuständig, bei Chris Imler führen dagegen Stress und Verausgabung zur Katharsis.

Vor vier Jahren erschien Imlers erstes Soloalbum »Nervös«. Es wurde viel beachtet, der frühere Mitmusiker mit dem auffälligen, schmalen Schnurrbart stand nun selbst im Rampenlicht. Es lohnte sich für ihn, Imler wurde öfter für Liveauftritte gebucht, seine Shows sind bekannt für die Leidenschaft, die der Rhythmiker bei ihnen an den Tag legt.

Veranstalter aus dem Ausland wurden auf ihn aufmerksam. Fast 100 Konzerte habe er im vergan­genen Jahr gespielt, erzählt Imler, zuzüglich der Anreisetage seien das mehr als 150 Tage gewesen, die er nicht zu Hause war. Und er ist tatsächlich oft weit weg, so weit weg, dass manche Freundinnen und Freunde in Berlin inzwischen selbstverständlich davon ausgehen, dass er nicht da ist, selbst wenn er gerade ein paar Tage in Berlin weilt.

Er findet ein schönes Bild dafür, wie es dazu kam, dass seine Musik international so viel Zustimmung fand: »Es ist wie nach einem Steinwurf ins Wasser: Die Welle breitet sich noch weiter aus, während es in der Mitte des Kreises bereits wieder ganz ruhig geworden ist.« Doch das heißt nicht, dass man ihn in Berlin nicht mehr vernehmen kann, er steht weiter auf der Bühne, solo und als Bandmitglied, komponiert Bühnenmusik und hilft hier und da im Studio. Und nun ist er auch wieder mit einem neuen Album präsent.
Es heißt »Maschinen und Tiere«; und es ist dunkler als sein Vorgänger, dunkler und unzufriedener. »Dein Über-Ich kam, als es unterging, raus«, heißt es an einer Stelle. Im Eröffnungsstück, das den Titel »Appelliere« trägt, singt Imler: »An alle Beteiligten/An die Bereitschaft jedes Einzelnen/An Afrika/An Amerika/An Europa/Ich appelliere an Maschinen und Tiere/Erlasst den Geschassten die Zinsen der Unschuld/An den zuständigen Beamten/Ich appelliere an Ihre Geduld.« Auch »An die Überbezahlten« wird ein Appell ausgesprochen, doch es wird nicht gebettelt. Die Musik ist fordernd, quietschend, sie nervt, sie verlangt danach, sehr laut gespielt zu werden, sie erzwingt Tanz.

Das tut auch das Stück »Nach Unten«, auch dieses schreit nach Bewegung, drängt sich auf, will Spaß, gleichzeitig heißt es vom singenden Ich, es strebe der »Vernichtung« entgegen. Ein weiterer ironischer Quatsch: »Ich bin Deine KPdSU«, singt Imler an anderer Stelle.

 

Imler spielt mit den Worten, er bietet keine Geschichte, keine Parolen, keine große oder kleine Erzählung. Die Wörter werden in den Beat hineingezogen, aus dem Mund herausgezogen, es sind Spielworte und Wortspiele. Selbstverständlich kann der gebürtige Augsburger nicht ohne ein Brecht-Zitat auskommen, doch wer nun glaubt, Imler liefere gesungene Analysen des Zeitgeschehens, der irrt. Denn andauernd kommt es etwa zu Wortfügungen wie »Gestylte Gestalten/geteilte Gewalten« und ähnlichem schönen Unsinn. Wörter setzt er als Reizwörter ein, das Ergebnis, die Platte, ist ein Meisterwerk des guten Schlechte-Laune-Pop. Und nebenbei eben auch ein Beispiel für Haltung.

Imler hat die Stücke nicht in einem Rutsch geschrieben, hat nicht an einem Konzeptalbum gearbeitet. Sie entstanden vielmehr dann, wenn Imler ein paar Tage für sich hatte, in Berlin, und nicht wenige von ihnen hat er schon einmal auf der Bühne gespielt, halb- oder ganz fertig, sie hielten also gewissermaßen dem weltweiten Praxistest bereits stand. Als die Platte dann im Studio von Dirk Dresselhaus (besser bekannt als Schneider TM) fertig produziert wurde, spielte Imler das Schlagzeug ein und veränderte noch einige Texte. Zunächst stand jeder Song für sich. Er hätte die Reihenfolge auf dem ­Album auch anders festlegen können, betont er. Dass die zweite Seite der LP erst etwas weniger Druck ausübt, sei nicht beabsichtigt gewesen, aber dass mit »Nach Unten« nochmal ein lautes und dynamisches Stück kommt, ist absolut folgerichtig. Tatsächlich haben es einige Tracks gar nicht auf das fertige Album geschafft.

Dieses ist, so scheint es, ein Gipfelpunkt sowie eine Zwischenbilanz. Zugleich ist es natürlich nicht nur ein willkommener Anlass für neue Konzerte, sondern ein Ganzes. Imler schätzt das Hypnotische an der Platte, als Schlagzeuger sei man, so sagt er, automatisch der afrikanisch geprägten Musik verbunden, die über die USA nach Europa gekommen sei.

Doch obwohl viele Stücke das Potential zum durchaus chartstauglichen Hit haben, nimmt Imler diese Ansätze regelmäßig wieder zurück, singt plötzlich wie Hubert Kah, bricht den Beat, streut Störgeräusche ein. Schöne Popsongs zu schreiben, das interessiert ihn nicht. Er will eher die Tänzerinnen und Tänzer herausfordern, so wie der Satzbau Adornos die Leserinnen und Leser herausfordert.

Genau das macht das Hypnotische der Platte aus, man kann sich in diese Musik hineinwerfen, sie wird einen herumschleudern, jedoch auch auffangen, und dabei die schlechte Laune des Hörers herauskitzeln, die große Unzufriedenheit. Man »jubelt«, wie es in ­einem Song heißt, »bis man kotzt«, und wenn man gut gekotzt hat, dann kann man wieder jubeln, tanzen, feiern, getreu dem Motto dance the pain away. Genau darum geht es Imler: Für mitsingbare Songs und klare Aufforderungen sind andere ­zuständig, bei Chris Imler führen dagegen Stress und Verausgabung zur Katharsis.

Aber kann das gutgehen, auch beim wiederholten Hören? Ja, denn Imler weiß über seine Produktionsmittel Bescheid und verwendet diese angemessen. Er will nichts, was er nicht kann, sondern holt alles aus dem heraus, was er hat. Und er verfügt über ein immenses Musikwissen, zitiert Barockstücke ebenso wie er auf den No Wave verweist, leiht sich einen Move hier und kopiert einen Sound dort, doch bevor man sich wohlfühlen kann, weil man etwas erkannt hat, bevor man weiß, wie es weitergehen müsste, kommt es ganz anders.

Und so etwas braucht es gerade heutzutage, da nur geschmachtet oder beim Rave getanzt wird, da Unvorhersehbares rar ist, und da die Körper- und Selbstoptimierer nicht nur jubeln, bis sie kotzen, sondern mit ihren Selfies auch ihre Erinnerungen anscheinend allein einem Smartphone anvertrauen. Imler weckt auf und holt sie dort heraus, diese Überbezahlten. Man lässt sich gerne von ihm wecken.

 

Chris Imler: Maschinen und Tiere (­Staatsakt)