Der Weltentwicklungsbericht der Weltbank beschäftigt sich mit der Frage, wie die Digitalisierung soziale Gerechtigkeit verändert

Ungerechtigkeit 4.0

Die Digitalisierung betrifft alle Lebensbereiche. Wie sie sich auf soziale Gerechtigkeit auswirkt, wird derzeit viel diskutiert. Auch die Weltbank befasst sich in ihrem Bericht für das Jahr 2019 damit. Ihre Analyse stammt allerdings aus der vordigitalen Zeit.

Von der Arbeitswelt über das Privat­leben und die Freizeitgestaltung bis zur Politik – die Digitalisierung hat die bis vor wenigen Jahrzehnten bestehenden Verhältnisse grundlegend verändert. Sie hat neue Lebenssituationen geschaffen, deren Konsequenzen für die Arbeit, das Gemeinwohl und das Leben der Einzelnen nur teilweise voraus­gesehen werden können.

Mit dem Thema Digitalisierung befasst sich derzeit auch die Weltbank, die gerade ihren Weltentwicklungsbericht für das Jahr 2019 vorbereitet. In ihren jährlich erscheinenden Berichten behandelt die Weltbank immer verschiedene Themen. Der Band für 2019 soll im Oktober unter dem Titel »The Changing Nature of Work« erscheinen und sich mit dem Wesen und der Zukunft der Arbeit beschäftigen. Der Entwurf ist im Netz frei zugänglich und wird Woche für Woche aktualisiert. Darin werden zwei Themen verbunden, die bisher selten zusammen diskutiert wurden: Di­gitalisierung und Ungleichheit. Die Digitalisierung hat den Verfassern zu­folge das Potential, soziale Ungleichheit zu verschärfen.

Über die Frage, ob die Digitalisierung eine große Chance oder ein großes Ri­siko für die Gesellschaft ist, ist auch die Meinung der deutschen Bevölkerung gespalten. Dem Ifo-Bildungsbarometer 2017 zufolge stimmten 50 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die Digitalisierung insgesamt zu größerer so­zialer Ungleichheit in Deutschland führen werde, 46 Prozent stimmen dem nicht zu. Die einen befürchten, dass die Digitalisierung zu massiven Arbeitsplatzverlusten führt und somit die Ungleichheit verschärft, die anderen hoffen auf neue Jobperspektiven in der digitalen Welt.

Die Autorinnen und Autoren unter der Leitung des Ökonomen und ehemaligen bulgarischen ­Finanzministers Simeon Djankov regen dazu an, den Kündigungsschutz zu lockern und Unternehmen generell von ihrer sozialen Verantwortung zu befreien. Mindestlöhne sollen gesenkt werden.

In den vergangenen Jahren sind die Reallöhne in Deutschland, nach einer längeren Phase der Stagnation, leicht gestiegen. Anders als in anderen west­lichen Ländern sind viele neue industrielle Jobs entstanden, in denen relativ hohe Löhne gezahlt werden.
Und doch sind stabile Wachstumsraten und Rekordbeschäftigung keine Garanten für soziale Gerechtigkeit. Der Anteil der Menschen, die als armutsgefährdet gelten, ist zuletzt wieder angestiegen. Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs und befristete Arbeitsverhältnisse prägen die Arbeitswelt – fast 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten inzwischen in derlei prekären Arbeitsverhältnissen. Für sie bedeutet dies häufig: niedrige Löhne, geringe soziale Absicherung und permanente Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Besonders jüngere Beschäftigte sind davon betroffen.

Rechte, die sich Lohnabhängige in den vergangenen Jahrzehnten gewerkschaftlich erkämpften, werden durch neue Arbeitsverhältnisse der Gig-Ökonomie unterminiert, bei der kleine Aufträge kurzfristig an unabhängige Freiberufler oder geringfügig Beschäftigte vergeben werden. Kündigungsschutz, Krankenversicherung und Urlaubsanspruch gelten dort nur selten. Die Digitalisierung der Arbeitswelt verstärkt diese Prozesse. Mittlerweile geht es auch nicht mehr nur um die industrielle Produktion.
Weitere Branchen werden umstrukturiert. Der Zeitungs- und Büchermarkt, der Börsenhandel, die Versicherungsbranche, Immobilien- und Stellenbörsen, das Militär – diese und weitere Bereiche sind ebenfalls von gewaltigen Transformationen betroffen.
Die Weltbank stellt fest: Die großen digitalen Unternehmen beschäftigen vergleichsweise wenige Mitarbeiter, vernichten aber

Tausende Jobs in der Industrie, im Handel und Dienstleistungssektor. Ein Beispiel hierfür sei der Fahrdienstleister Uber. Durch die Möglichkeit, Menschen privat im Auto mitzunehmen, wird das organisierte Taxigewerbe unter Druck gesetzt. Waren gewisse Mindesteinkommen und Sicherheiten für die regulären Taxifahrer gegeben, fallen bei Uber alle Formen der gewerkschaftlichen Organisierung und Versicherungen komplett weg. Das Ergebnis ist die Prekarisierung der gesamten Branche.

Die unregulierte, digitale Variante des Taxigewerbes steht also nicht für die inklusiv und sozial gerecht erscheinende sharing economy, sondern bedeutet unterm Strich: Vereinzelung und direkte Ausbeutung, also Kapitalismus in Reinform.

 

Doch es gibt auch eine positive Erzählung über die Digitalisierung. Zahlreiche Verlautbarungen aus Wirtschaft und Politik preisen sie als Garant für zukünftigen Wohlstand. Vom Bundeswirtschaftsministerium über die Unternehmensplattform »Industrie 4.0« bis hin zu Beratungsfirmen wie McKinsey sind sich alle einig, dass Phänomene wie Big Data, Internet der Dinge und künstliche Intelligenz nicht nur für Wachstum sorgen werden, sondern auch zu sozialer Gerechtigkeit beitragen können. Gab es früher enorme Hürden, die die Existenz kleiner Produzenten be- und verhinderten, können sich Menschen nun über Marktplätze wie Ebay selbständig machen oder Geld neben dem Job hinzuverdienen. Ebenso verhält es sich mit Uber oder Airbnb – Geld kann hier relativ leicht verdient werden.

Doch ein Blick auf wissenschaftliche Szenarien macht skeptisch, ob diese Gerechtigkeitsversprechungen der Digitalisierung wirklich einzuhalten sind. Digitale Innovationen werden sich anders auswirken als vorherige technologische Entwicklungen. Ihre atem­beraubende Geschwindigkeit tangiert auch die Arbeitsplatzsicherheit. Verschiedene Studien sagen voraus, dass allein in den nächsten zwei Jahrzehnten zwischen zwölf und 40 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen könnten – die neu entstandenen Jobs bereits eingerechnet.

Von der Digitalisierung sind mittlerweile alle Berufsgruppen betroffen. Die Technologie selbstfahrender Autos ersetzt zumindest potentiell die Busfahrer, Drohnen die Postbeamtinnen, intelligente Systeme die Buchhalterin und schlussendlich können auch Wissensarbeiter ersetzt werden – künstliche Intelligenz an Stelle von Professoren.

Die Weltbank geht in ihrem Bericht darauf ein und fordert Maßnahmen, um wachsender Ungleichheit vorzubeugen: »Als erste Priorität sind umfangreiche Investitionen in das Humankapital während des gesamten Lebens einer Person von entscheidender Bedeutung. Wenn die Arbeiter gegenüber Maschinen konkurrenzfähig bleiben sollen, müssen sie in der Lage sein, ständig neue Fähigkeiten zu trainieren oder von Anfang an besser ausgebildet sein«, heißt es darin.


Doch was passiert mit all denen, die nicht mithalten können? Die Jobs, die mit der Digitalisierung entstehen, werden nur zu einem kleinen Teil gut bezahlt sein. Der kleinen Gruppe von Programmierern oder IT-Ingenieurinnen wird die große Mehrheit der Beschäftigten bei Lieferketten, in Lagerhallen oder als Gelegenheits-, Crowd- und Clickarbeiterinnen gegenüberstehen – im Niedriglohnsektor.

All das wird dazu führen, dass die soziale Ungleichheit weiter anwächst. Die Vorschläge der Weltbank scheinen in dieser Hinsicht wenig aussichtsreich zu sein. So regen die Autorinnen und Autoren unter der Leitung des Ökonomen und ehemaligen bulgarischen ­Finanzministers Simeon Djankov dazu an, den Kündigungsschutz zu lockern und Unternehmen generell von ihrer sozialen Verantwortung zu befreien. Mindestlöhne sollen gesenkt werden.

An deren Stelle solle laut Weltbank ein bedingungsloses Grundeinkommen und bessere private Vorsorge treten. Dies soll durch höhere Steuern finanziert werden, die dem Entwurf zufolge aber hauptsächlich Geringverdienende und Ärmere belasten würden.

Mit diesen Mitteln wird man dazu beitragen, dass sich einige wenige – die die Macht über Roboter und Algorithmen haben – zu Lasten der großen Mehrheit bereichern. Riesige Mengen Kapital sammeln sich bereits bei wenigen Firmen an, die große Plattformen und Programme entwickeln.

Der digitalisierte Klassenkampf scheint derzeit eindeutig auszufallen. Er betrifft aber nicht nur die Arbeitswelt, sondern die gesamte Gesellschaft, denn diese Firmen akkumulieren nicht nur große wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Macht: Sie verfügen über das Wissen, die Daten und die medialen Räume, mit denen in Gesellschaft und Politik Diskussionen geführt und Entscheidungen getroffen werden. Kämpfe um soziale Gerechtigkeit im digitalen Kapitalismus werden dadurch umso schwerer – aber auch umso wichtiger.