Luc Boltanski und Arnaud Esquerre vernachlässigen bei ihrer gegen Marx gewendeten Analyse der Ware die Digitalisierung

Was die Ware wert ist

Die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre versuchen sich in Abkehr von Karl Marx an einer Kritik der Ware – und vergessen dabei, auf die Digitalisierung einzugehen.

»Regionalmarke Eifel«, eine Marke passend zum dazugehörigen National­park; Hofläden, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen; liebevoll restaurierte Städte und Dörfer – was hat all das miteinander zu tun? Nach Ansicht der Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre sind diese Phänomene allesamt Teil einer umfassenden Veränderung der westeuropäischen Ökonomie. Nachdem immer mehr klassische Industrieproduktionszweige abgewickelt worden und vorzugsweise in Niedriglohnländer ausgewandert seien, habe sich – durchaus mit staatlicher ­Förderung – eine neue Wirtschaft entwickelt, die ihr Geschäft mit der Vergangenheit betreibt: Lokale wie regionale Traditionen werden belebt und hochstilisiert, um Standort­vorteile für den gehobenen Ökotourismus zu gewinnen. Alte, berühmte Marken werden ausgebaut und weltweit als Luxusprodukt vermarktet, Kunst und Antiquitäten als Accessoires für die Reichen haben neue Bedeutung erlangt.

Boltanski und Esquerre bezeichnen diese Entwicklung als »Bereicherungsökonomie«. Der Begriff ist im Französischen doppeldeutig, er meint nämlich nicht nur Be-, sondern auch Anreicherung: Es geht nicht nur darum, dass bestimmte Personen sehr viel reicher werden, sondern um bestimmte Strategien, Dinge der Vermarktung zuzuführen, die bis ­dahin für diese noch nicht erschlossen waren. Grundlage dafür sei eine »Dualisierung des Konsums«, bei dem die – oftmals ins Ausland ausgelagerte – Massenproduktion großer Handelsketten für die finanziell schwächer gestellten Käufer der Herstellung spezieller Produkte gegenüberstehe, »die eben gerade durch ihre Abweichung von den Standard­artikeln definiert sind und die Bedürfnisse von besonders wohlhabenden Käufern befriedigen sollen«. Dazu zählen edle Parfüms und Hand­taschen, Bio-Lebensmittel, erlesene Käsesorten und Weine.

Ebenfalls ­gehört dazu die Gentrifizierung, bei der ganze Stadtviertel oder Regionen durch Betonung ihrer Traditionen und kulturellen Eigenheiten angereichert werden, so dass über die Er­höhung der Immobilienpreise, aber auch durch Belebung des Tourismus hohe Renditen erzielt werden können. Möglich wird diese Entwicklung durch eine Patrimonialisierungsstrategie, also dadurch, dass bestimmte Landschaften oder Stadtteile zum nationalen Erbe erhoben und darüber vermarktet werden können – womit zugleich die Implementierung bestimmter traditioneller Produkte und Marken einhergeht. Boltanski und Esquerre illustrieren dies praktisch am Beispiel der aus dem Ort Laguiole stammenden Messer.

Die Feststellungen der Soziologen werden von beiden im weiteren ­Verlauf des Buches systematisch ausgebaut, um eine grundsätzliche ­Kritik der Ware zu entwerfen, insbesondere des Wertbegriffs, den sie von seiner klassischen Bestimmung durch Karl Marx, so wie sie ihn verstehen, unabhängig machen wollen. Marx bezieht die Bestimmung des Werts eines Produkts auf die zu seiner Herstellung durchschnittlich notwendige gesellschaftlich abstrakte Arbeitszeit. Diese aber ist nach ­Meinung von Boltanski und Esquerre nicht quantifizierbar. Sie schlagen stattdessen ein Modell vor, bei dem die Wertermittlung über eine Differenz zwischen dem Preis und dem sogenannten Metapreis erfolgt: Letzterer hängt mit dem tatsächlich zu zahlenden Preis zusammen, ist aber nicht mit ihm identisch; der Meta­preis bezieht sich auf die »Vorgänge, durch die Preise sich bilden«.

Der Wert entspricht also nahezu nie dem Preis, sondern wird im Rahmen eine Bewertungsverfahrens, in Bezug auf den Metapreis, festgesetzt. Auf diese Weise ist der Wert eben an den Preis gebunden, nicht wie bei Marx um­gekehrt der Preis in vermittelter Form an den Wert, die Arbeitszeit und den gesellschaftlichen Vorgang des Warentauschs.

Auf dieser Basis richten Boltanski und Esquerre ihren Blick sodann auf die Erscheinung der Waren. Sie unterscheiden dabei vier verschiedene Modelle, nämlich die Standardform, worunter sie die klassische ­Industrieproduktion verstehen; die Trendform, Produkte mit Neuheitscharakter also, die daher auch nur kurzfristig profitabel sind; und schließlich die Sammler- und die Anlageform, die auf dauerhafte Profite abzielen. In der Bereicherungsökonomie herrschen zumeist kombinierte Trend- und Sammlerformen vor, denn wie bei Objekten einer Kunstsammlung wird auch hier der Wert durch Tradition sowie durch die Dauer ihrer Existenz festgelegt.
Im Ganzen wirkt das Modell der Autoren sehr überzeugend, weil es methodisch einen systemischen ­Ansatz in der Beschreibung von ­Makrostrukturen und einen pragmatischen Ansatz, »der dadurch Aufschluss über das Handeln von Personen geben möchte, dass er die kognitiven Strukturen analysiert, auf ­denen ihr Austausch beruht«, miteinander verschränkt.

Die Entdeckung der neuen Bereicherungsökonomie ist nachvollziehbar und kon­sistent dargebracht. Auch die daraus folgende Erklärung ist schlüssig: dass die Klasse der Reichen immer reicher wird, weil sie nämlich, obwohl sie über diese spezifische Ökonomie als Gruppe von Konsumenten angesprochen wird, doch darüber verdient, während zugleich alle ­anderen immer ärmer werden. Wer jedoch womöglich Impulse für ein konkretes politisches Handeln erwartet, wie die beschriebene Bereicherungsökonomie effektiv kritisiert oder gar bekämpft werden könnte, wird enttäuscht: Boltanskis und ­Esquerres Resümee am Ende des ­Buches bleibt abstrakt und mehr als vage.

Auch der Ansatz selbst ist in verschiedener Hinsicht kritisch zu ­betrachten. So treffend die beiden Soziologen die Bereicherungsökonomie beschreiben mögen, trotz aller Zuwächse macht diese Form der ­Luxusökonomie nur einen verschwindenden Anteil der Weltwirtschaft aus. Boltanksis und Esquerres Argumentation wirkt beinahe so, als existiere das produzierendes Gewerbe oder der Dienstleistungssektor bereits oder schon bald gar nicht mehr. Tatsächlich aber ist, wenn man die Gesamtheit der Waren und der erwirtschafteten Umsätze betrachtet, die Standardform in großem Maßstab weiter dominierend, und das dürfte zunächst auch so bleiben. Vieles in dem Modell ist zudem sehr stark auf Frankreich bezogen, ob es verallgemeinerbar ist, bleibt fraglich.

Trotz aller Zuwächse macht die Form der Luxusökonomie, wie sie von Boltanski und esquerre treffend beschrieben wird, nur einen verschwindenden Anteil der Weltwirtschaft aus.

Verwunderlich ist auch, dass bei Boltanski und Esquerre der neue Plattformkapitalismus, der derzeit häufig besprochen wird – in der ­Wissenschaft etwa bei Nick Srnicek und Timo Daum – überhaupt keine Rolle spielt. Er lässt sich eigentlich in keines der Muster von Boltanski und Esquerre pressen – der Handel mit Daten stellt eine ganz eigene Form der Ökonomie dar, deren Inwertsetzung sich weder über die Standardform noch die Trend-, Sammler- oder Anlageform erklären lässt. Es handelt sich dabei aber, wie man an dem Unternehmenswert von Amazon, ­Facebook, Uber oder Airbnb erkennen kann, um einen gewichtigen Faktor der derzeitigen Wirtschaft.

Boltanski und Esquerre behandeln die Digitalisierung insgesamt etwas stiefmütterlich. Es wäre ja durchaus einen Gedanken wert gewesen, welche Folgen auch ein flächendeckender Einsatz von 3D-Druckern auf die ­produzierende Industrie haben könnte. Wenn die Zukunftsvisionen der Hersteller sich bewahrheiten, könnte die Standardform nahezu gänzlich wegfallen, weil sich jeder die Produkte selbst ausdrucken könnte. Trotz dieser Leerstellen regen die Autoren aber dazu an, sich über ökonomische Prozesse Gedanken zu machen.


Luc Boltanski/Arnaud Esquerre: Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Suhrkamp, Berlin 2018