Der Roman »Das Verschwinden des Josef Mengele« von Olivier Guez

Auf der Rattenlinie

Der französische Journalist und Schriftsteller Olivier Guez erzählt in seinem Roman »Das Verschwinden des Josef Mengele« vom Leben des nationalsozialistischen Kriegsverbrechers nach 1945, der sich bis zu seinem Tod 1979 der Verhaftung entzog. Kann das funktionieren?

Helmut Gregor ist in Gedanken versunken. Endlich, nach drei Wochen haben er und seine Mitpassagiere mit dem Ozeandampfer »North King« Buenos Aires erreicht. Selbst ihm, dem »erstklassigen Wissenschaftler«, werden am Hafen die »Schikanen« der argentinischen Zollbehörden nicht erspart bleiben. Der Reisende, der kein Wort Spanisch spricht, kommt notdürftig in einem Hotel unter, und da es ihm nicht gelingt, die durch seinen Schleuser vermittelten Kontakte ausfindig zu machen, muss er lernen zu improvisieren.

Mit der Schilderung dieser nicht untypischen Exilerfahrungen seines Protagonisten beginnt der 2017 in Frankreich erschienene Roman von Olivier Guez. Zuhause schienen Helmut Gregor eine vielversprechende Universitätslaufbahn und enorme soziale Anerkennung so gut wie sicher. Doch die Alliierten haben den Krieg gewonnen, und damit ist auch Gregors wissenschaftliches Renommée dahin. Vor der Kapitulation Deutschlands hieß Helmut Gregor Josef Mengele.

Nach einigen Jahren des unbehelligten Lebens in Buenos Aires kann Mengele immer weniger auf sein weltweites Netzwerk vertrauen. Der ehemalige Lagerarzt von Auschwitz fürchtet seine Entdeckung und wird ständig paranoider.

Auf knapp 200 Seiten erzählt Guez in seinem jetzt auf Deutsch vor­liegenden Roman »Das Verschwinden des Josef Mengele« vom Leben des nationalsozialistischen Kriegsverbrechers nach 1945. In seiner Funktion als Lagerarzt von Auschwitz nahm Mengele Selektionen vor, überwachte die Vergasung der Opfer und führte grausame medizinische Experimente an Häftlingen durch. Die literarische Form des Romans ist der Versuch, sich mit der Persönlichkeit des ­Täters auseinanderzusetzen. Gerade zu Beginn des Romans besticht die ­lakonische Erzählsprache, die vor ­allem eine Innenansicht des Zynismus Josef Mengeles, aber auch ­anderer nach Lateinamerika emigrierter Nazis gewährt. Guez wird dabei jedoch nie nihilistisch oder affirmativ, da er die Banalität der Bösen immer wieder mit der Monstrosität ihrer Verbrechen kontrastiert.

So fühlt sich der eitle Bildungs­bürger und ehrgeizige Karrierist Mengele, als er sich mit der schachbrettartigen Topographie von ­Buenos Aires vertraut macht, wie ein »unbedeutender Floh«, er, der ­unlängst noch ein ganzes Reich tyrannisiert hatte, und »denkt an eine ­andere Planstadt«. Dort hatte er »seine besten Jahre als Ingenieur der Rasse verbracht (…), eine verbotene Stadt in dem beißenden Geruch von verbranntem Haar und Fleisch, ringsherum Wachtürme und Stacheldraht«. Mit dem Motorrad, Fahrrad oder Auto war Mengele damals ­»zwischen den gesichtslosen Schatten umhergefahren, unermüdlicher Kannibalen-Dandy, Stiefel, Handschuhe und Uniform blitzblank, die Mütze etwas schief aufgesetzt«. ­Sogar »seine Kameraden vom Schwarzen Orden hatten Angst vor ihm. An der Rampe, wo die europäischen Juden selektioniert wurden, waren sie betrunken, er aber blieb nüchtern und pfiff lächelnd ein paar Takte aus ›Tosca‹.«

Man erfährt im Buch einiges über das gesellschaftliche Klima in ­Lateinamerika, in der Bundesrepublik Deutschland und auch in Israel. So finanzierte Kurt Mengele, auch nach 1945 ein mächtiger Firmenchef im bayerischen Günzburg, großzügig die Flucht seines Sohns. Argentinien ist, wie Guez detailliert beschreibt, ein Dorado für geflohene Nazis, mit ­deren Hilfe Staatspräsident Juan Péron dem Land zu neuer Größe verhelfen will. Ohne mit der Wimper zu zucken, stellte das westdeutsche Konsulat in Buenos Aires Josef Mengele einen Personalausweis und eine Geburtsurkunde aus, die argentinischen Behörden erteilten ihm eine Aufenthaltsgenehmigung: »Benvido, señor Mengele«, kommentiert der allwissende Erzähler trocken. Die nachgezogene Ehefrau Martha lässt sich ins Telefonbuch eintragen, die Mengeles ziehen in eine große, repräsentative Villa ein. »Der Pascha ­bekommt Gesellschaft und wird bürgerlich. Das Leben meint es gut mit ihm«, kommentiert der Erzähler.

In Israel ist man nach dem Sechs-Tage-Krieg zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt, um Mengele und andere Nazis aufzuspüren. Denn nach 1967 waren die Israelis bei der UN so sehr auf die Stimmen aus Lateinamerika angewiesen, dass eine Einmischung in die Souveränität andere Staaten wie bei der Entführung von Adolf Eichmann durch den Mossad 1961 nicht mehr in Frage kam.

Nach einigen Jahren des unbehelligten Lebens in Buenos Aires kann Mengele jedoch immer weniger auf sein weltweites Netzwerk vertrauen. Der ehemalige Lagerarzt von Auschwitz fürchtet seine Entdeckung und wird ständig paranoider. Dieser letzte Abschnitt in Mengeles Biographie, dessen Leben 1979 in Brasilien nach einen Schlaganfall beim Schwimmen im Meer endet, behandelt Guez im zweiten Teil seines Romans. Dort beginnt der Autor seine zuvor kluge, psychologische Herangehensweise zugunsten markiger Metaphern aufzugeben: Mengele wird, wie Guez schreibt, vom privilegierten »Pascha« in Buenos Aires zur durch Lateinamerika gejagten »Ratte«.

Mit dieser Formulierung bezieht sich der Autor auf die sogenannten rat lines, eine von US-amerikanischen Geheimdienst- und Militärkreisen geprägte Bezeichnung für Fluchtrouten führender Vertreter des NS-Regimes und SS-Angehöriger nach Südamerika. Leider wird die präzise Schilderung von Milieus, Ideologien und historischen Kontexten im zweiten Teil des Romans ­allzu häufig von einer effekthascherischen Sprache ersetzt. So werden nicht nur Mengeles Geliebte in Paraguay unnötigerweise als »Tropen-Bovary« und Simon Wiesenthal als »letzter Mohikaner der untergegan­genen Welt der ost- und mitteleuropäischen Juden« bezeichnet. In ­Hinblick auf Mengele ist sogar von Kainsflüchen, »Höllenfahrten« oder »mephistophelischen Augenbrauen« die Rede – Bilder, die blenden und Gefahr laufen, Josef Mengele, den Täter mit Geschichte, in einen überhistorischen Dämon zurückzuverwandeln.

Auch das Ende des Romans ist ­ärgerlich: Im Epilog versucht Guez wieder an die lakonische Sprache des Romananfangs anzuknüpfen. Doch das misslingt, da der Erzähler hier nicht mehr den absurd-unbehelligten Alltag des nach Lateinamerika emi­grierten Nazimilieus beschreibt, sondern versucht, die Schilderungen von Überlebenden wiederzugeben, die Opfer des KZ-Arztes waren. Von ­einem »Martyrium« der für medizinische Versuche misshandelten Häftlinge will man in diesem Zusammenhang eigentlich nicht lesen. Ebenso wenig wie von einer »Holocaust-Welle«, die in Form der gleichnamigen Fernsehserie oder von Claude Lanzmanns »Shoah« »über die westliche Welt schwappt«.

Abschließend versucht Guez sogar, »Das Verschwinden des Josef Mengele« zu einer Art Lehrstück zu machen. Das geschieht jedoch recht ­unvermittelt. Es ist immer noch derselbe allwissende Erzähler, der plötzlich schreibt: »Immer nach zwei oder drei Generationen, wenn das Gedächtnis verkümmert und die letzten Zeugen der vorherigen Massaker sterben, erlischt die Vernunft, und Menschen säen wieder das Böse.« Und er schließt mit den Worten: »Nehmen wir uns in Acht, der Mensch ist ein formbares Geschöpf, nehmen wir uns vor den Menschen in Acht.« Unklar ist, ob Guez mit diesem Ende geschichtsphilosophische Thesen vertreten will. Oder einfach nur nach einem pastorales Schlusswort suchte, das der Mystifizierung Men­geles dient, die Guez drauf und dran war, literarisch zu dekonstruieren.

 

Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele. Aus dem Französischen von ­Nicola Denis. Aufbau-Verlag, Berlin 2018. 224 Seiten, 20 Euro