Long Read: Adam Tooze, Wirtschaftshistoriker, im Gespräch über die Krise 2007/2008 und ihre Folgen

»Die Katastrophe wurde abgewendet«

Deutschland habe sich während der Eurokrise aus politischen Gründen un­kooperativ und unilateral orientiert und kritisierte die Versuche anderer zur Krisenbekämpfung, während es das Ausmaß der Verstrickung seiner eigenen Finanzinstitute heruntergespielte. Das, unter anderem, sagt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze im Gespräch mit der »Jungle World« über die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, die Rolle Deutschlands darin und ihre Folgen bis heute.
Interview Von

Das Ausmaß und der globale Charakter der Finanzkrise von 2007/08 werden oft übersehen oder heruntergespielt. In Ihrem neuen Buch »Crashed« dagegen erscheinen sie als wesentlich, um die weitreichenden Folgen der Krise zu erklären. Könnten Sie Ihre Argumentation kurz skizzieren?
Wenn man sich das Ausmaß der Erschütterung von 2008 vor Augen führen will, steht man vor dem Problem, dass man dazu eine Art kontrafaktische ­Geschichte schreiben muss. Natürlich kann man heute sagen: »Die Große ­Depression ist letztlich ausgeblieben, und Sie behaupten, es war sogar schlimmer als die Große Depression? Die Wirtschaftsdaten sahen zwölf ­Monate lang schlecht aus, das stimmt, aber … «

Doch im September 2008 schien die Finanzwirtschaft weltweit vor dem ­Zusammenbruch zu stehen. Die internationalen Kapitalflüsse brachen um rund 95 Prozent ein – nicht allmählich, sondern ganz plötzlich.

Gleichzeitig schien es, als würde der Finanzkapitalismus, wie wir ihn kannten, sein Ende erleben. Und beides stimmt.

Was geschah genau im internationalen Finanzsektor?
In den USA ging es nicht nur um Lehman Brothers. Merrill Lynch wurde von der Bank of America gerettet. Goldman Sachs und Morgan Stanley waren in ernsthaften Schwierigkeiten. Die Citigroup ist bekanntlich im Grunde tot und hätte abgewickelt werden sollen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Das wirklich Erstaunliche ist, dass dies für das gesamte nordatlantische Finanz­system gilt. Wenn man sich die Daten der US-Notenbank Federal Reserve Board (Fed) ansieht, wird deutlich, dass alle deutschen Großbanken – Deutsche Bank, Commerzbank, Dresdner Bank, Landesbanken – massive Liquiditätsprobleme hatten, das moderne Pendant zu einem Ansturm auf die Banken. Ein gesamtes System stand unter immensem Druck. Und das hat schnell auf die Realwirtschaft übergegriffen: Auch der Welthandel ist im Winter 2008/09 dramatisch eingebrochen.

Doch dann wurde die Katastrophe abgewendet. Obwohl die Gefahr eines ­totalen Zusammenbruchs viel größer war als 1929, ist eine zweite Große ­Depression in der nordatlantischen Ökonomie ausgeblieben.

Insofern könnte man eine Analogie zur Kuba-Krise von 1962 ziehen: Wir haben dem Weltuntergang ins Auge gesehen und ihn doch noch verhindert. Die Geschichte solcher Ereignisse ist verblüffend. Die Gefahr einer totalen Katas­trophe ist real, Machtstrukturen und Vertrauen werden erschüttert – doch dann wird die Katastrophe abgewendet und schnell stellen sich wieder Bequemlichkeit und die alte Ordnung ein.

Mit Blick auf 2007/08 von einer US-amerikanischen Krise zu sprechen, ist also irreführend?
Ja, das ist nichts als eine europäische Schutzbehauptung. Zunächst einmal haben die europäischen Banken in der letzten und gefährlichsten Phase der Verbriefung von Subprime-Krediten eine erhebliche Rolle gespielt – ironischerweise auch mit amerikanischem Geld. Sie haben im Grunde als ameri­kanische Banken agiert, sich nämlich in Amerika Geld geliehen, um es eben dort zu verleihen. Die Globalisierung hat tatsächlich stattgefunden, Privatunternehmen haben sich grenzüberschreitend betätigt. Aber es gibt einen starken politischen Imperativ, die Krise national zu interpretierenen – besonders wenn man meint, dadurch die Verantwortung auf andere abwälzen zu können, anstatt sich den realen Folgen des globalisierten Systems zu stellen, das alle etablierten Parteien der west­lichen Welt ab den siebziger Jahren mit geschaffen haben.
Hinzu kommt, was zur selben Zeit in Europa geschah. Wir sprechen gerne von einer amerikanischen Krise, aber die Immobilienblasen in Spanien und Irland waren proportional gesehen doppelt so groß wie in den USA.

Und beide sind 2007/08 geplatzt. Spanien musste nach 2008 unabhängig davon, was in der übrigen ­Euro-Zone passiert, in eine verheerende Rezession mit sehr hoher Arbeitslosigkeit rutschen. Anfangs konnte die spanische Regierung die Krise zwar noch eindämmen, 2012 folgten dann aber die wirklich bedrohlichen Bankenpleiten. Irland dagegen brachte sich mit seiner Kriseneindämmung an den Rand des Staatsbankrotts, ähnlich sah es in Großbritannien aus – ganz unabhängig vom Zusammenbruch von Lehman Brothers waren zwei der größten britischen Banken, RBS and HBOS, bankrott.

Einerseits meinen also die Amerikaner, das sei ihre Krise, da sie sehr borniert denken und die Fed der amerikanischen Bevölkerung ungern erklären will, was sie für globale Banken getan hat, andererseits schieben die Euro­päer die Schuld gerne den US-Amerikanern zu. Alle beschlossen, die Krise der Euro-Zone als ein Problem sui generis zu betrachten, das eindeutig nichts mit 2008 zu tun habe.

»Man könnte eine Analogie zur Kuba-Krise von 1962 ziehen: Wir haben dem Weltuntergang ins Auge gesehen und ihn doch noch verhindert.«

Wie sehen Sie Deutschlands Rolle in der Krise?
Das – sehr heterogene – deutsche Bankensystem hat auf allen Ebenen erheblichen Anteil an der Krise, weshalb es erstaunlich ist, dass deutsche Politiker die Krise so eifrig als eine US-amerikanische darstellen.

Das ist einerseits schlichter Eigennutz – man will die heiße Kartoffel weiterreichen. Aber es hat auch mit einer Geschichte angespannter transatlantischer Beziehungen zu tun, die mindestens bis zum Irak-Krieg zurückreicht. 2002/2003 hat sich die rot-grüne Bundesregierung als Gegen­gewicht zu George W. Bush und Tony Blair dargestellt. Jürgen Habermas und Jacques Derrida haben 2003 in ihrem Manifest die Metaphysik eines »gespaltenen Westens« postuliert – eine Verleugnung der Realität wirtschaftlicher und finanzieller Verflechtungen.

Selbst als die Bundesregierung im Herbst 2007 an der Rettung der Bank IKB gearbeitet hat, war sie fest entschlossen, die Krise nicht als ein europäisches Problem anzuerkennen. Der Deutschen Bank ist es gelungen, ihre Prob­leme an der Wall Street zu regeln, um die Peinlichkeit zu vermeiden, sich zu Hause mit Finanzminister Peer Steinbrück und Kanzlerin Angela Merkel auseinanderzusetzen.

Als die Krise im September 2008 Europa schwer erschüttert, fallen die Deutschen dadurch auf, dass sie nicht einmal auf der Ebene schlichter Kommuni­kation mit den anderen europäischen Regierungen kooperieren.

Das geht so weit, dass die britische Regierung ihre Botschaft in Berlin anruft und bittet, beim Bundesfinanzministerium anzuklopfen, um zu sehen, ob jemand da ist. Denn dort geht niemand ans Telefon!

Wann hat man das zuletzt gesehen, dass sich ein Botschafter um finanzpolitische Koordination bemühen muss?

Adam Tooze

Nach einem Studium in Cambridge und an der FU Berlin promovierte Adam Tooze 1996 an der London School of Economics and Political Science. 2009 wurde er Professor für moderne deutsche Geschichte an der Yale University und wechselte 2015 an die Columbia University in New York. In Deutschland wurde er durch seine Kritik an Götz Alys Buch »Hitlers Volksstaat« bekannt. 2006 veröffentlichte er sein Buch »The Wages of Destruction: The Making and Breaking of the Nazi Economy«. Kürzlich erschien sein Buch »Crashed.

Bild:
dpa / Ger Harley

 

Gibt es weitere Beispiele für ein eigenartiges Vorgehen Deutschlands?
Bemerkenswert ist auch die Abfolge der Ereignisse um den französisch-niederländischen Vorschlag für ein gemeinsames europäisches Vorgehen in der Krise. Die Benelux-Länder und Frankreich sind finanziell eng verflochten. Und es ist offenkundig, dass Irland mit der Rettung seiner Banken zu kämpfen hat, die too big to fail sind. Also schlagen die Franzosen vor, eine europäische Lösung auszuarbeiten. Ihre Idee, Bürgschaften und Rekapitalisierung ­gemeinsam anzugehen, ist noch im embryonalen Stadium. Doch die Deutschen verweigern sich komplett. Sie hat keine Chance. Als die Bundes­regierung dann selbst angesichts eines möglichen Ansturms auf die Banken unruhig wird, verkünden Steinbrück und Merkel einseitig eine umfassende Bürgschaft für deutsche Einlagen. Ohne jede Absprache. Auf dem Höhepunkt der Krise gibt es also eine sehr besorgniserregende Phase, in der die Deutschen nicht kooperieren, nicht kommunizieren und stattdessen unilateral agieren. Und sie haben schlichtweg zu viel ­Gewicht, als dass man ihnen das erlauben könnte.

Dasselbe zeigt sich in der Finanzpolitik. Im Frühjahr 2009 dringen die ­Briten und Amerikaner beim Londoner G20-Gipfel auf ein großes Konjunkturprogramm, aber die Deutschen machen die Idee zunichte – eine gemein­same Erklärung für ein solches Programm wird es nicht geben. Selbst in Deutschland können sie sich in der Großen Koalition kaum auf Konjunkturmaßnahmen einigen. Und schon gar nicht werden sie sich gegenüber den Briten und US-Amerikanern dazu verpflichten. Stattdessen will Berlin über Derivate, Hedge Fonds und Steueroasen reden. Das alles sollte fraglos reguliert werden, ist kurzfristig für die Bewältigung der Krise aber unerheblich. Die Briten und US-Amerikaner haben viel stärker die Rekapitalisierung und Liquidität der Banken im Blick. Die Bundesregierung interpretiert diesen Drang, das Feuer unverzüglich zu löschen, moralisch: »Ihr wollt davon ablenken, dass ihr eure Hausaufgaben nicht gemacht habt und wie defekt euer Finanzsystem ist.« Aber erstens war auch Deutschlands Finanzsystem defekt, und zweitens helfen mittel- und langfristige Reformen bei einer akuten Krise nicht. Sie können die Belastung sogar noch erhöhen.

Wie ging es weiter?
Ihren Abschluss findet die Geschichte 2009 mit der »Schuldenbremse«. Als sich die Große Koalition endlich doch noch auf ein Konjunkturprogramm einigt, wird dies durch das Abkommen konterkariert, in Zukunft keine neuen Schulden zu machen. Mit der »Schuldenbremse« hat Deutschland ein ­wesentliches Element des 2010 einsetzenden Austeritätskurses eingeführt.

Kurz gesagt war Deutschland aus vielschichtigen politischen Gründen un­kooperativ, unilateral orientiert und kritisierte die Versuche anderer zur Krisenbekämpfung, während es das Ausmaß der Verstrickung seiner eigenen Finanzinstitute in die Krise heruntergespielt hat. Wenn man mit Leuten wie Timothy Geithner (US-Finanzminister von Januar 2009 bis Januar 2013, Anm. d. Red) darüber spricht, zeigen die sich nicht überrascht. Denn genau dasselbe hat die Regierung Bill Clintons 1995 bei der Mexiko-Krise erlebt. Die Deutschen waren völlig unkooperativ und haben in den IWF-Gremien dagegen protestiert, Ressourcen für die Eindämmung einer Krise einzusetzen, von der die amerikanischen Banken stark betroffen waren. Für Geithner und Larry Summers (Wirtschaftsberater ­Barack Obamas, Anm. d. Red.) war das eine prägende Erfahrung.