Long Read: Adam Tooze, Wirtschaftshistoriker, im Gespräch über die Krise 2007/2008 und ihre Folgen

»Die Katastrophe wurde abgewendet«

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Interview Von

Könnte man die Diskussion über die Schuldenkrise als eine Gelegenheit für die Deutschen sehen, grundlegende Prinzipien durchzusetzetzen, auf die sie die Euro-Zone schon ­immer verpflichten wollten?
Ja. Für Finanzminister Wolfgang Schäuble war das zugleich Taktik und Strategie. Er wollte mehr Integration und Zusammenarbeit in der Euro-Zone. Aber ihm war klar, dass er seine euroskeptischen Wähler dafür nur mit dem Argument gewinnen konnte, dass sie zwar auf mehr Souveränität verzichten sollen, die anderen Länder sich aber im Gegenzug an dieselben Regeln halten müssen. Er weiß, dass das politisch unumgänglich ist. Wenn die deutschen Wähler nicht davon überzeugt sind, dass alle genauso durch die »Schuldenbremse« diszipliniert werden wie Nordrhein-Westfalen, dann läuft das nicht. Es gibt in Deutschland deindustrialisierte Städte, die unter erheblichem finanziellen Druck stehen. Nordrhein-Westfalen bereitet es Probleme, die »Schuldenbremse« einzuhalten. Warum sollten für Griechenland andere Regeln gelten?

Fiskalische Disziplin ist für Schäuble deshalb eine Voraussetzung für mehr Integration. Gleichzeitig wird dieses Projekt von einem Verständnis der Glo­balisierung angetrieben, nach dem zu viel Sozialstaat und zu hohe Besteuerung der Wettbewerbsfähigkeit schaden. Angela Merkel führt ungemein gerne drei Zahlen an: 7–25–50 – auf Europa entfallen sieben Prozent der Weltbe­völkerung, 25 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung und 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben. Das sei nicht tragfähig, erklärt sie beharrlich. Deshalb gibt es eindeutig einen Abbau des Sozialstaats; in der Großen Koalition und im Finanzministerium sitzen Leute, die unter good governance einen deutlich schlankeren Staat verstehen.
Allerdings muss man eines hinzu­fügen, was sehr wichtig ist, um der deutschen Politik während der Krise nicht Unrecht zu tun: Verglichen mit Frankreich zeigen sich Bundesregierung wie Opposition seit 2009 offener für die Idee, die Gläubiger bluten zu lassen. Immer wieder sind es die Deutschen, die darauf bestehen, dass man über Schuldenstreichungen zulasten der Banken reden muss – wenn die Bundesregierung es nicht sagt, dann tut es die SPD. Insofern ist das deutsche Verständnis von Disziplin wesentlich ausgewogener als das der Europäischen Zentralbank (EZB). Zumindest im Prinzip gilt es gleichermaßen für Gläubiger wie Schuldner.
Inwieweit waren die politischen Maßnahmen gegen die Krise »trial and error«, inwieweit ein durchdachtes Konzept?

Zunächst würde ich sagen, dass die ab 2008 ergriffenen Maßnahmen in der einen oder anderen Variante auf der ganzen Welt angewendet werden. Denn so kompliziert ist es nicht – wenn man sich die Probleme halbwegs ­informiert ansieht, kommt man eben zu diesen Maßnahmen: Liquiditätsspritzen, Rekapitalisierung, Bürgschaften. Historisch stimmt es allerdings, dass bestimme Ideen eine sehr zentrale Rolle bei der Gestaltung von Politik spielen. Für die US-amerikanischen Führungsschicht war die prägende Erfahrung, die zu einem positiven Verständnis der Rolle der US-Regierung geführt hat, die Zeit des New Deal, des Zweiten Weltkriegs und schließlich des Marshall-Plans. Erst mit dem New Deal entsteht die heutige Form eines ausgedehnten Staats, mit einer Zentralbank, die vor allem Deflation verhindern soll. Die Lehre aus den Jahren 1929 bis 1933 lautet, dass eine wirklich dramatische Deflation dann auftritt, wenn die Banken pleite gehen.

In Deutschland spielte eine andere Interpretation der Geschichte eine Rolle...
Deutschland hat natürlich seine eigenen historischen Erbschaften. Es hat in den frühen dreißiger Jahren eine katastrophale Deflation erlebt, die die Weimarer Republik zerstört und Hitler den Weg gebahnt hat. Die historische Lehre, die die Bundesbank immer betont, lautet aber nicht, dass man Deflation ver­hindern muss, sondern dass Inflationsbekämpfung absolute Priorität haben sollte.

In den USA wurde die Situation 2008/09 in einer direkten Analogie zur Wahl von Franklin D. Roosevelt gesehen. Barack Obamas Messlatte waren die ersten 100 Tage der Roosevelt-­Regierung. Das ist der Mythos der US-amerikanischen demokratischen ­Politik: das Weiße Haus als Bühne für heroisches Handeln der Regierung. ­Obamas Team hat die Verabschiedung des Konjunkturprogramms als Notgesetzgebung inszeniert – der Kongress musste an Wochenenden tagen, um das Paket zu beschließen. Christina Romer, Obamas damalige oberste Wirtschaftsberaterin, ist Wirtschaftshistorikerin. Sie hat es ausdrücklich formuliert: Wir müssen mit unserem Konjunkturprogramm den New Deal noch überbieten. Die Gründe dafür, dass niemand Hitlers Konjunkturprogramm ab 1933 als Vorbild anführt, dürften auf der Hand liegen.

Was halten Sie von Vorschlägen, als Alternative zum bisherigen Krisenmanagement zum Nationalstaat zurückzukehren?
Die Krise von 2008 hatte eine solche Wucht, Reichweite und Geschwindigkeit, weil sie eine Implosion der Bilanzen von Privatunternehmen war – ein moderner Ansturm auf die Banken. Und dessen Antrieb sind nicht makroökonomische Kräfte, sondern ein Vertrauensverlust privater Anleger in transnationale Märkte. Die Lehre, die Politiker, Manager und die für die Kriseneindämmung zuständigen Behörden daraus ziehen, lautet daher, dass diese Bilanzen, diese Banken, eine direkte Steuerung benötigen. Insofern zwingt die Wirklichkeit, wie jede marxistische Kritik prognostizieren würde, selbst eine dogmatische bürgerliche Ideologie dazu, sich der Tatsache zu stellen, dass die Weltwirtschaft von riesigen transnationalen Konzernen beherrscht wird.

Das Jahr 2008 hat gezeigt, dass man buchstäblich nichts begreift, wenn man keinen Einblick in die Bastionen des Finanzsektors hat. Bei einem weltweiten Zusammenbruch des Internets würden wir uns nicht lange mit der US-amerikanischen Handelsbilanz aufhalten. Interessieren würde uns vielmehr, was bei dem kapitalistischen Internet­unternehmen passiert ist, bei dem es zum Absturz kam. Und nichts anderes ist letztlich im Finanzsystem geschehen. Wenn wir statt der Nationalökonomie die transnationalen Konzerne in den Blick nehmen, könnte das radikale Konsequenzen haben, weil die keynesianischen Verharmlosungen der Lage dann nicht mehr funktionieren. Wenn die Welt von Konzernen dieser Größenordnung beherrscht wird – und das ist eine ­unumkehrbare Verschiebung –, dann ist ein Festhalten an nationalen Kategorien nur Selbsttäuschung. Das ist gegenwärtig die Lehre aus der Krise. Eine »Rückkehr zum Nationalstaat« ist illusorisch, sofern sie nicht mit einer wirklich radikalen Umgestaltung der Weltwirtschaft einhergeht.

Sie erkennen an, dass das Krisenmanagement für zahllose Menschen katastrophale Folgen hatte, behaupten aber, ohne die ergriffenen Maßnahmen wäre die Situation noch schlimmer gewesen. Gab es also keine Alternative?
Natürlich könnten wir uns eine Welt ausmalen, in der ein wirklich demokratischer und legitimer Souverän entschlossen, energisch und intelligent auf die Krise reagiert – eine Regierung, die – wie das Putin-Regime – nicht ­davor zurückschreckt, zur Befriedigung des Strafbedürfnisses ein paar Oligarchen durch die Mangel zu drehen und ins Gefängnis zu stecken, aber auch ein großes Konjunkturprogramm auflegt und die Zentralbank anweist, ­dafür zu sorgen, dass dadurch keine Panik an den Anleihemärkten entsteht. Eine Regierung, die eine Währungsabwertung zulässt, um gegenüber China etwas wettbewerbsfähiger zu werden, und das Ganze mit einer Mobilisierung von basisdemokratischen, kulturellen und sozialen Organisationen abrundet, um fortschrittliche Politik dauerhaft abzusichern.

Das wäre eine Art Turbo-Version des New Deal. Der hat sogar Maler, Künstler und Schriftsteller organisiert – mit der Begründung, dass sie ebenfalls arbeitslos sind, Arbeit brauchen, Kunst pro­duzieren können und man sie dafür bezahlen sollte – und damit eine der ­bedeutenden kulturellen Hinterlassenschaften Amerikas im 20. Jahrhundert hervorgebracht. Ich bin mir sicher, dass sich die optimistischen Syriza-Politiker so ihre Regierung vorgestellt ­haben. Jede demokratische Politik sollte das Ziel haben, so zu sein.

Das ist so nicht eingetreten...
Gehen wir einfach mal davon aus, dass das aus vielen verschiedenen Gründen unrealistisch ist. Dann befinden wir uns in einer Welt, in der es um die zweit- oder drittbeste Option geht. Was die Krise vor diesem Hintergrund nüchtern betrachtet illustriert, ist der Unterschied, ob man von halbwegs gut organisierten, egoistischen Kapitalisten und ihren Gehilfen regiert wird oder in einer Ordnung lebt, in der Unternehmensinteressen ebenfalls dominieren, sich aber gegenseitig lähmen und auch in völlig dysfunktionaler Weise das politischen System im Allgemeinen. Am Ideal gemessen ist weder das eine noch das andere Szenario schön, in beiden Fällen werden furchtbare Dinge getan. Aber im ersten Fall begreifen die Kapitalisten den fordistischen Grundgedanken, dass die Arbeiter die Produkte kaufen müssen, die man ­herstellt, und es folglich besser ist, wenn sie nicht arbeitslos sind. Höhere Löhne können nicht schaden.

Die Fed zielt auf Vollbeschäftigung. Ben Bernanke, vor seinem Wechsel zu einem Hedgefonds ihr Präsident, ist ein Konservativer mit einem sozialen Gewissen, der aus sehr bescheidenen Verhältnissen kommt. Er besucht die ärmsten Gegenden Amerikas und weist die Fed an, regionale Ungleichheiten zu untersuchen. Die Fed hat eine Art sozialpolitische Agenda. Ber­nanke hat 2012 erklärt, dass der Leitzins bei null bleiben wird, bis die Arbeits­losenquote auf sechs Prozent gefallen ist. Auch die Fed soll für Preisstabilität sorgen, doch niemand außerhalb der EZB hatte zu diesem Zeitpunkt wirklich Inflationsängste. Bernankes quantita­tive easing (quantitative Lockerung, eine expansive Geldpolitik zur Erhöhung der Liquidität, Anm. d. Red.) ist nicht gerade das, was man sich unter einer ­effizienten Konjunkturmaßnahme vorstellt, sondern eine Art letztes Mittel. Aber es ist eine Wirtschaftspolitik, die intelligent funktioniert.

Und jetzt vergleiche man das mit der Euro-Zone, wo es offenbar Leute gibt, die eine Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent in einem Land von der Größe Spaniens für einen akzeptablen Zustand halten. Wenn man das US-Amerikanern konkret schildert, sehen sie einen ungläubig an. Spanien ist so groß wie Texas. Wie würde die US-Regierung reagieren, wenn es in Texas 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit gäbe, nicht unter benachteiligten schwarzen, sondern unter weißen Jugendlichen mit einem Schulabschluss? Wahrscheinlich würde Texas selbst den Notstand erklären und ein Konjunkturprogramm auf­legen.

Dass Spanien nach dem Platzen der Immobilienblase gegen die Wand ­fahren musste, ist klar. Aber warum zum Teufel gibt es keine spezielle ­Arbeitsmarktpolitik für Regionen, die besonders hart getroffen werden, sondern nur das drakonische Standardprogramm des Fiskalpakts? Große Aus­gaben für bestimmte Regionen sind der EU schließlich nicht fremd, wie man in Osteuropa, besonders in Polen, sehen kann. Die Antwort kennen wir natürlich: Sie liegt in Schäubles offenbar unentrinnbarer Logik von Regeln und Regelbefolgung sowie in Deutschlands eigener verdrehter politischen Ökonomie. Daraus resultiert ein scharfer Kontrast – zwischen einem oligarchischen System in den USA, das ein recht kompetentes Krisenmanagement betreibt, und einem in Europa, dessen politische Anlage die Krise in der Euro-Zone über 2009 hinaus fortdauern lässt, bis heute.

Übersetzung aus dem Englischen: Felix Kurz

Texte von Adam Tooze finden sich unter adamtooze.com.