In Argentinien haben reaktionäre Gruppen erfolgreich gegen den landesweiten Sexualkundeunterricht protestiert

Sieg der Gegenaufklärung

In Argentinien haben rechte und christlich-konservative Gruppen gegen den Sexualkundeunterricht an Schulen protestiert. Das Bildungsministerium hat nun nachgegeben.

Alle paar Minuten gebärt eine Minderjährige in Argentinien ein Kind, statistisch betrachtet. Im Jahr 2015 kamen 111 699 Kinder von Müttern unter 19 Jahren auf die Welt, davon waren 2 787 von unter 15jährigen. Vor allem in ärmeren Provinzen und urbanen Armutsvierteln bedeutet eine solche Schwangerschaft ein extremes Gesundheitsrisiko. Seit 2006 existiert das Gesetz 26.150, das diese Zahlen senken soll; es ordnet Sexualaufklärung in allen Schulen an. Diese soll wissenschaftlichen Grundlagen entsprechen sowie Respekt vor der Integrität anderer Personen und Geschlechtergerechtigkeit vermitteln und somit auch Missbrauch vorbeugen. Doch einer umfassenden Evaluation des Bildungsministeriums von 2017 zufolge haben lediglich zwei von zehn argentinischen Schülerinnen und Schülern regelmäßig umfassende Sexualerziehung (Educación Sexual Integral, ESI), wie der Unterricht im Gesetz bezeichnet wird.

Um Abhilfe zu schaffen, wurde am 4. September im zuständigen Ausschuss des Abgeordnetenhauses eine Reform des ESI-Gesetzes beschlossen. Es sollte in den Rang eines Gesetzes »öffentlicher Ordnung« erhoben werden, außerdem sollten Artikel 2 verändert und Artikel 5 gestrichen werden. Insgesamt hätte das bedeutet, dass die Regelung nicht wie bisher von den Provinzen angenommen oder abgelehnt werden kann – bis dato haben lediglich vier der 23 Provinzen das Gesetz übernommen, fünf weitere sowie die Stadt Buenos Aires haben eigene Regelungen –, sondern für das ganze Land gilt. Durch die Modifikation des Artikels 2 wären auch Inhalte zu sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität in den Lehrplan aufgenommen worden. Die Streichung des Artikels 5 hätte ­bedeutet, dass Schulen die Bildungsinhalte nicht mehr an ihre »soziokulturelle Realität, das institutionelle Leitbild und die Überzeugungen ihrer Mitglieder« anpassen dürfen. Gerade die weitverbreitesten katholischen Privatschulen, bieten bisher oft ein Programm der »Erziehung zur Liebe, Keuschheit, Ehe und Familie« anstelle der staatlichen ESI. Experten gelten diese Ausnahme­regelungen als Hauptgrund für die mangelnde Umsetzung des Gesetzes.

Noch am Tag des Ausschussbeschlusses regte sich Widerstand von christlichen Vereinigungen und reak­tionären Elternverbänden. Binnen kürzester Zeit entstand die Kampagne »Con mis hijos no te metas« (in etwa: »Meine Kinder rührst du nicht an«, CMHNTM). Der Slogan war zwei Jahre zuvor in Peru entstanden. Auch dort hatten sich rechte Elterngruppen gegen Sexualaufklärung gewandt. In Argentinien ist dieses Milieu bereits gut organisiert. Im August hatte der Senat ein Gesetz zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen abgelehnt, das monatelang diskutiert worden war. Das erzkonservative Milieu hatte im Zuge der Auseinandersetzung Kampagnen organisiert, um die Legalisierung zu verhindern. In der Debatte über das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch hatten viele Abtreibungsgegnerinnen und -gegner oft darauf verwiesen, dass eine effiziente und umfassende Sexualaufklärung ausreiche, um zu verhindern, dass junge, meist arme Frauen an klandestin vorgenommenen Abtreibungen sterben.

Umso zynischer ist nun die Kampagne gegen die ESI. Während es vordergründig vor allem darum ging, die Implementierung einer vermeintlichen »Genderideologie« zu verhindern, konkret die Anpassung des Artikels 2, richtet sich der Protest nun verstärkt gegen das Gesetz als solches. Mitte Oktober unterbrach eine rechte Gruppe eine ESI-Unterrichtsstunde in der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, La Plata. In einem Video ist zu hören, wie ein Demonstrant dem Schulpersonal entgegnet: »Ich werde deinem perversen Gesetz nicht gehorchen.« In den sozialen Medien verbreiteten sich Videos und Texte, in denen bisweilen schlicht gelogen wurde, was die Inhalte der ­Sexualaufklärung angeht. Kindern würde beigebracht, wie man masturbiert, und sie würden zur Homosexualität erzogen, echauffierten sich zahlreiche ­Eltern. Der Staat wolle die Kinder »pervertieren«, behauptete eine Frau in ­einem an Staatspräsident Mauricio Macri adressierten Video.

Letztlich geht es, wie die Parole der Rechten klarmacht, um einen grundsätzlichen Rückschritt im bürgerlichen Recht. Kinder sollen, wie es noch bis 1983 in Argentinien der Fall war, wieder als eine Art Eigentum der Eltern gelten und nicht als Subjekte mit Rechten, deren Wahrung der Staat sicherstellt. Insbesondere in Anbetracht der hohen Zahl innerfamiliärer Missbrauchsfälle ist dies eine Entwicklung, die fürchterliche Auswirkungen haben dürfte, wie mehrere Psychologen und Journalistinnen warnen. Gerade die Umsetzung der ESI habe oftmals erst die Möglichkeit geschaffen, dass Kinder über erlebten Missbrauch sprechen konnten, versichern Lehrkräfte, die das Programm unterstützen.

Binnen kurzer Zeit entwickelte die reaktionäre Kampagne jedoch eine solche Wucht, dass der Bildungsminister Alejandro Finocchiario am 26. Oktober bekanntgab, die Reform nicht weiter verfolgen zu wollen. Das Ministerium finde, »das Gesetz muss nicht geändert, sondern dessen effektive Umsetzung im gesamten Staatsgebiet abgeschlossen werden«. Dies ist ein merkwürdiges Argument, war doch genau dies das Ziel der Reform.

Es war ein erneuter Sieg für die ­reaktionäre Rechte Argentiniens. Zwei Tage später demonstrierten trotzdem 6000 Menschen gegen die Reform vor dem Kongressgebäude in Buenos Aires. Einige trugen schwarze Fahnen mit ­einem Totenschädel und dem Spruch »Religión o Muerte« (Religion oder Tod). In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts nutzten Gegner der laizistischen Reformen des ersten Präsidenten Argentiniens Bernardino Rivadavia (1826–1827), diese Parole. Des Weiteren waren bei der Demonstration antisemitische und verschwörungsideologische Bilder und Parolen zu sehen; eine lautete: »Argentinien ist freimaurerischer und zionistischer denn je«. Die Interessenvertretung der jüdischen Gemeinde Argentiniens (DAIA) erstattete deswegen Anzeige, die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen. Organisiert hatten die Demonstration Verbände aus dem Umfeld der »Lebensschützer«, also jene, die bereits gegen die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gekämpft hatten. Einige dieser Gruppen, wie Partido Celeste oder Partido por la Vida, versuchen derzeit, ihre Anerkennung als politische Partei zu er­reichen. Für Mitte November ist eine weitere Demonstration geplant.