In Israel ist die Regierungskoalition fast auseinandergebrochen

Turbulente Wochen für Netanyahu

Einen Krieg mit der Hamas im Gaza-Streifen konnte Israel noch abwenden, doch die Regierungskoalition ist beinahe zerbrochen.

Verkehrte Welt: Gideon Levy, die publizistische Galionsfigur der antizionistischen Linken in Israel, singt plötzlich das Hohelied auf Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Dieser sei »ein Mann des Friedens«, schrieb er jüngst in der Tageszeitung Haaretz. Tapfer habe er allen Forderungen seines tyrannischen Verteidigungsministers Avigdor Lieberman, des kriegslüsternen Bildungsministers Naftali Bennett sowie der Presse widerstanden, sich auf einen neuen Krieg in Gaza einzulassen. Levy scheint nicht der Einzige zu sein, dessen politisches Koordinatensystem gerade durcheinandergewirbelt wurde. Denn die vergangenen Tage waren selbst für israelische Verhältnisse äußerst turbulent.

Angefangen hatte alles am 8. November mit einem Flugzeug aus Katar, das nicht nur Mohammed al-Emadi, den Gesandten des Emirats für Gaza, an Bord hatte, sondern auch drei Koffer mit insgesamt 15 Millionen US-Dollar. Bargeld und Diplomat wurden in israelische Regierungsfahrzeuge verfrachtet und dann auf die Reise nach Gaza geschickt, wo sie bereits erwartet wurden. Denn die dort herrschende Hamas ist ­finanziell am Ende. Gehälter erhielten ihre Mitarbeiter schon lange nicht mehr. Tags darauf aber sah man sie mit 100-Dollar-Noten wedeln. Israel hatte also maßgeblich Anteil an der Stabilisierung der Herrschaft der Hamas, aus ganz pragmatischen Gründen: Chaos im Gaza-Streifen könnte noch radikaleren Gruppen wie dem Islamischen Jihad Auftrieb geben. Zudem sollten der Geldtransfer sowie bereits zuvor genehmigte Treibstofflieferungen – ebenfalls aus Katar – das Zustandekommen einer von Ägypten vermittelten Waffenruhe erleichtern.

Chaos im Gazastreifen könnte noch radikaleren Gruppen wie dem Islamischen Jihad Auftrieb geben.

»In Absprache mit Sicherheitsexperten bin ich bereit, alles zu unternehmen, damit die Bewohner in den Ortschaften im Süden wieder Ruhe haben können«, kommentierte Netanyahu das Abkommen in Paris, wo er gerade an den Feierlichkeiten anlässlich des 100. Jahrestags der Beendigung des Ersten Weltkriegs teilnahm. »Es ist ein Fortschritt, und ich bin überzeugt, dass es die richtige Maßnahme zur richtigen Zeit war.« Dem stimmten nicht alle zu, allen voran widersprach Lieberman. »Das ist eine Kapitulation vor dem Terrorismus«, sagte er am 9. November. »Auf diese Weise erkauft sich Israel kurzfristig Ruhe, beschädigt aber langfristig seine Sicherheit.«

Damit nahm der Streit innerhalb der Regierungskoalition seinen Lauf. Allerdings war es Lieberman selbst, der noch im Juni auf Zypern bei einem Treffen mit Katars Außenminister Mohammed bin Abdulrahman al-Thani genau diesen Finanztransfer vereinbart hatte. Bis April 2019 sollten jeden Monat 15 Millionen US-Dollar nach Gaza fließen. Bennett, Liebermans alter Wider­sacher im Kampf um Stimmen rechter Wähler, schrieb deshalb auf Twitter, der Verteidigungsminister »leidet entweder an Gedächtnisverlust oder ist einfach nur ein Lügner«.
Am Montag vergangener Woche setzte dann der Beschuss aus Gaza ein. Innerhalb weniger Stunden hagelte es über 450 Raketen auf Israels Süden – so viele wie noch nie in einem derart kurzen Zeitraum. Sogar am Toten Meer gab es Luftalarm. Vorangegangen war eine gescheiterte israelische Aufklärungsmission in Gaza, wobei Nour Baraka, ein ranghoher Funktionär der Hamas, sechs weitere Palästinenser sowie der israelische Kommandeur einer Spezialeinheit zu Tode kamen. Die jihadistische Konkurrenz hatte den in Gaza regierenden Islamisten wegen des Geldtransfers Kollaboration mit dem Erzfeind vorgeworfen, deshalb fiel der Raketenbeschuss diesmal besonders heftig aus. Die Hamas wollte zeigen, dass sie keinesfalls käuflich sei. Zwar antwortete Israel mit über 160 Luftangriffen, aber eine Bodenoffensive, die zu einem handfesten Krieg wie zuletzt 2014 geführt hätte, gab es nicht.

Avi Gabbay, der Vorsitzende der Arbeitspartei, attestierte Netanyahu deshalb eklatantes Versagen: »Es gibt weiterhin keine Sicherheit für die Bewohner des Südens.« Tzipi Livni von der links-zentristischen Zionistischen Union warf Netanyahu vor, »sich von dem offiziellen Ziel der israelischen Politik zu verabschieden, die Herrschaft der Hamas zu beenden, und sich hin zu einer Politik zu bewegen, die genau diese am Leben erhält«. Die Linke hätte gern ein härteres Vorgehen gesehen. Auch Lieberman hatte ein solches immer wieder gefordert, weshalb er am Mittwoch voriger Woche von seinem Amt als Verteidigungsminister zurücktrat und ankündigte, dass seine Partei Israel Beitenu die Koalition nun verlasse. Diese hätte in der Knesset dann nur noch eine Stimme Mehrheit gehabt.

Prompt meldete Bennett Anspruch auf das Verteidigungsministeramt an, um »Israel wieder auf die Straße der Sieger zu führen«. Doch da wollte Netanyahu nicht mitmachen. Er selbst werde nun neben seinen Ämtern als Ministerpräsident und Außenminister auch das Verteidigungsressort übernehmen. »Immer wieder habe ich mein eigenes Leben riskiert, um unser Land zu schützen«, sagte er in Anspielung auf seine Zeit als Soldat in der Eliteeinheit Sayeret Matkal. Das qualifiziere ihn für das Amt. Daraufhin kündigte auch Bennett an, mit seiner Partei die Koalition zu verlassen, was unweigerlich zu Neuwahlen geführt hätte. Am Montag sagte er jedoch überraschend, er werde nun doch »an der Seite Netanyahus bleiben«. Vorerst dürfte es also keine Neuwahlen geben. Offenbar wollte Bennett nicht für das Scheitern der rechten Koalition verantwortlich sein.
Für den Moment scheint Netanyahus Regierung also gerettet. Von links und rechts gleichermaßen attackiert, befindet sich der Ministerpräsident aber in einer schwierigen Lage. Denn bis dato war es immer das Thema Sicherheit, mit dem er Wahlen gewinnen konnte. Einer aktuellen Meinungsumfrage ­zufolge sind nun aber 74 Prozent der Bevölkerung mit seiner Gaza-Politik unzufrieden. Unmut äußern vor allem Bewohner im Süden – Netanyahus Wählerbasis. Sie demonstrieren gegen die ihrer Meinung nach zu lasche Reaktion auf den heftigen Raketenbeschuss vor wenigen Tagen.

Profitiert von dem Konflikt hat Yahya Sinwar, der Führer der Hamas in Gaza. Seine Erpressungsmethoden haben Netanyahus Regierung beinahe zu Fall gebracht und Lieberman zum Rücktritt bewegt. »Jetzt muss er nur aufpassen, dass ihm diese Erfolge nicht zu Kopf steigen«, meint der Sicherheitsexperte Avi Issacharoff. Denn die mi­serable soziale Lage der Palästinenser in Gaza hat sich keinesfalls verbessert. »Auch sollte Sinwar genau wissen, wo für Israel die roten Linien sind«, so Issacharoff. Sollte die Hamas diese überschreiten und es zu einem weiteren Krieg in Gaza kommen, wird dieser wahrscheinlich blutiger ausfallen als alle anderen zuvor.