Brexit - Die Nerven liegen blank

Theresa Mays Verzweiflungstat

Die britische Premierministerin hat eine Abstimmung im Parlament über ihre Vereinbarung mit der EU verhindert. Institutionelles Chaos ist die Folge.

Die kalte Dusche kam am Montagnachmittag. Die britische Premierministerin Theresa May sagte vor dem Unterhaus die für den kommenden Tag erwartete »bedeutende Abstimmung« über das mit der EU verhandelte Austrittsabkommen ab. Noch kurz zuvor hatten ihre Minister gesagt, die Abstimmung werde stattfinden. Doch May war es nicht einmal gelungen, ihre eigene Partei von dem Abkommen zu überzeugen. Mehr als 100 Tory-Abgeordnete galten als potentielle Rebellen, in ihrer Regierung hatte es bereits mehrere Rücktritte aus Protest gegen das Abkommen gegeben.

Zudem hatten die Labour-Partei, die Scottish National Party und die Liberaldemokraten bereits ihre Ablehnung deutlich gemacht. Die Abstimmung werde bloß vertagt, sagte May. De facto hatte sie eine Abstimmungsniederlage zu erwarten, die ihre politische Position unhaltbar gemacht hätte.

»Jeder muss wissen, dass der Austrittsvertrag nicht noch einmal aufgemacht wird«, sagte Jean-Claude Juncker bereits vor seinem Treffen mit Theresa May.

Die Abgeordneten im Unterhaus waren not amused. »Die Leute waren fuchsteufelswild«, zitierte die britische Tageszeitung Guardian einen namentlich nicht genannten Tory Brexiteer. »Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das eine totale Missachtung der Abgeordneten und des Parlaments ist.« Der Vorsitzende der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, sagte, Großbritannien habe keine funktionierende Regierung mehr. May weigere sich, den backstop aus dem Verkehr zu ziehen, kritisierte Nigel Dodds, der Fraktionsvorsitzende der rechtskonservativen Democratic Unionist Party, die die Minderheitsregierung der Tories toleriert. Aber das ist illusorisch. Der sogenannte backstop ist eine mit der EU ausgehandelte Notfalllösung, um eine »harte« Landesgrenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland zu vermeiden.

Die Bewertung von Mays Schritt in der britischen Presse fiel am Dienstag harsch aus. »Verzweifelte May enthüllt ihren Plan B: mehr Zeit zu kaufen«, titelte der Guardian; die Financial Times schlagzeilte: »May wendet sich an die EU um Hilfe nach Rückzug von Brexit-Vertragsabstimmung«.

Am Dienstag reiste May auf den Kontinent, um in Gesprächen mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und schließlich mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Zugeständnisse zu erreichen. Aber das scheint aussichtslos. »Jeder muss wissen, dass der Austrittsvertrag nicht noch einmal auf­gemacht wird«, sagte Juncker bereits vor seinem Treffen mit May. Außer ­geringfügigen Korrekturen ist nichts drin für die britische Premierministerin.

Das war zu erwarten. Aber viele interpretieren Mays Schritt so, dass sie auf Zeit spielt, um mit der Drohung eines EU-Ausstiegs ohne eine Vereinbarung mit der EU, die verheerende wirtschaftliche Folgen hätte, Zustimmung zu ihrem von allen Seiten kritisierten Abkommen zu erpressen. Tatsächlich hat sie die Frage, wann im Parlament über ihr Abkommen abgestimmt werden soll, nicht beantwortet.

Angesichts dieser ungemütlichen Situation liegen die Nerven blank in der britischen Politik. Am Dienstagmorgen sandten die Vorsitzenden von vier kleineren Oppositionsparteien, der Liberaldemokraten, der Scottish National Party, der Grünen und der walisischen Partei Plaid Cymru, einen offenen Brief an Corbyn, in dem sie diesen aufforderten, ein Misstrauensvotum im Parlament gegen Theresa May zu unter­stützen. Aber Corbyn antwortete aus­weichend, er werde »zur angebrachten Zeit« die angemessenen Schritte unternehmen. Ähnlich wie Theresa May spielt er auf Zeit.
John Major von den Tories, von 1990 bis 1997 britischer Premierminister, sagte am Dienstag bei einer Rede in Irland, niemand wolle Chaos.

Deshalb solle sofort die Entscheidung nach Artikel 50 der EU-Verträge rückgängig gemacht werden. Diese hatte das zweijährige Austrittsverfahren aus der EU in Gang gesetzt. Am Montag hatte der Europäische Gerichtshof geurteilt, das Vereinigte Königreich könne den für Ende März 2019 angekündigten EU-Austritt noch einseitig ohne Zustimmung der übrigen EU-Länder absagen. Dazu müsste die Regierung allerdings dem Parlament einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen, und die Mehrheit des Parlaments müsste dafür stimmen; nichts deutet gerade darauf hin, dass die Regierung Mays diesen Schritt unternehmen wird.

 

Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass die Tory-Fraktion der Befürworter eines »harten Brexit« ohne Abkommen in den kommenden Tagen ein parteiinternes Misstrauensvotum gegen die geschwächte Premierministerin May in Gang setzen wird. Boris Johnson schrieb kürzlich, man müsse »die Vorbereitungen beschleunigen«, die EU ohne eine Vereinbarung zu verlassen, das werde die EU dazu veranlassen, »ein großartiges Abkommen« zu liefern. Dominic Raab, bis November für den EU-Austritt zuständiger Minister, phantasierte davon, »no-deal deals« seien mit der EU möglich.

Tatsächlich ist ein Ausstieg aus der EU ohne Vereinbarung ein worst case-Szenario für die britische Wirtschaft, vor allem für den Handel. Die mit ­Waren beladenen LKW aus der EU würden womöglich für Wochen in den ­Häfen feststecken, und Kundinnen und Kunden würden vor leeren Regalen im Supermarkt stehen. Dies betrifft auch das Gesundheitssystem, denn viele Medikamente werden aus der EU eingeführt. Ein »no deal«-

Ausstieg hätte nach einer Analyse der Regierung einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 9,3 Prozent zur Folge.
Eine weitere Möglichkeit wäre ein zweites Referendum. Ohne einen Regierungswechsel ist das die einzige Option, den Ausstieg doch noch zu verhindern, und immer mehr Mitglieder des Parlaments sprachen sich in den vergangenen Tagen dafür aus. Führende Ausstiegsgegner, darunter Mitglieder der konservativen und der Labour-Partei, diskutieren bereits Pläne für eine weitere Wahlkampagne. Es solle eine basisdemokratische Bewegung ohne prominente Führungsfiguren geben, welche an der ursprünglichen Motivation der Austiegswählerinnen und -wähler ansetzt. Es solle beispielsweise gezeigt werden, dass der Verbleib in der EU dem wirtschaftlich schwächeren Norden zugute komme.

Doch gegen einen Verbleib in der EU und gegen das als »Verrat« empfundene Abkommen Theresa Mays mit der EU kämpfen auch die rechte United Kingdom Independence Party (Ukip) und rechtsextreme Gruppierungen. ­Einer der prominentesten britischen Rechtsextremen, Stephen Yaxley-Lennon, besser bekannt als Tommy Robinson, ehemaliger Anführer der English Defense League, schloss sich Aufrufen zu einer Demonstration gegen den ­»Brexit-Betrug« an. Robinson trat erst kürzlich eine »Beratungsfunktion« für die Ukip an. Am Sonntag stand er in der ersten Reihe des von etwa 1 500 Menschen besuchten Protestes in Westminster, nahe dem Parlamentsgebäude. Er nutzte die Gelegenheit, in einer Rede Ukip-Mitglieder anzuwerben; aus seiner Sicht könne die Partei die »Arbeiterklasse« zusammenbringen und repräsentieren. »Jetzt sind wir an der Reihe«, sagte Robinson und: »das Land ist bereit.« Dass ein Ausstieg der Arbeiterklasse nutzen würde, ist eine sehr gewagte Behauptung. Die Wirtschaftsprognosen der Regierung zeigen, dass der Norden und die Mitte Englands, also die traditionellen Industriegebiete, stärker vom Wirtschaftsrückgang betroffen wären als der wirtschaftlich stärkere Süden.

Dies ist ein Grund, warum Kritiker der Labour-Partei »Klassenverrat« ­vorwerfen: Da Labour nicht konsequent ein zweites Referendum fordere, han­dele die Partei nicht im Interesse der arbeitenden Bevölkerung in wirtschaftlich schwächeren Gebieten. »Als Labour-Mitglieder und Unterstützerinnen und Unterstützer wollen wir, dass unsere Partei in den kommenden Monaten dafür kämpft, das Anti-Arbeiterklassen-Desaster, das sich Brexit nennt, zu verhindern«, hieß es in einem offenen Brief von 40 Aktivistinnen und Aktivisten. Die gegen den Ausstieg und für ein zweites Referendum eintretende Organisation »People’s Vote«, die vor einigen Wochen 700 000 Menschen für eine Demonstration in London auf die Straße brachte, rief zusammen mit einer Vielzahl antifaschistischer Gruppen zu einer Gegendemonstration gegen den »Brexit-Betrug«-Protest von Tommy Robinson und Ukip auf. Etwa 10 000 Menschen nahmen an der von Gruppen wie Momentum, Unite Against Fascism und Feminists Against Fascism organisierten Demonstration teil, die von einem großem ­Polizeiaufgebot begleitet wurde.

Die kommenden Tage werden allerdings nicht von Protesten auf der Straße geprägt sein, sondern von dem institutionellen Chaos, das auf Mays Verschiebung der Abstimmung im Parlament folgt.