»Coming Out« ist der erste Film über Homosexualität in der DDR

Die schwule Wende

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Die Melancholie von »Coming Out« zeugt von einem bestimmten Verständnis von Emanzipation. Die Anfangssequenz gibt der Einsamkeit im Sozialismus Raum und eindrückliche Bilder: In der Silvesternacht wird ein junger Mann halb bewusstlos ins Krankenhaus gebracht. Ihm wird der Magen ausgepumpt, dann sieht man ihn allein im Krankenhausbett auf einem leeren, mit Neonröhren beleuchteten Flur liegen.
Der Selbstmordversuch, der den Film eröffnet, steht in der Abfolge der erzählten Ereignisse ganz am Schluss. Der junge Mann auf dem Krankenhausflur ist Matthias, in den sich der in einer heterosexuellen Beziehung lebende Lehrer Philipp verliebt. Durch diese Zeitstruktur, die Matthias’ Verzweiflung vom Ende der Handlung ganz am Anfang erzählt, wird jedes Element, das wir danach zu sehen bekommen, melancholisch.

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Philipp Klarmann erlebt im Film sein Coming-out

Bild:
DEFA Stiftung Wolfgang Fritsche

Alles steht unter dem Eindruck des Wissens um Matthias’ Selbstmordversuch. Dieser melancholische Grundton hebt den Film von zwei bundesrepublikanischen Vorläufern ab, auf die er sich dennoch zu beziehen scheint. Rosa von Praunheims »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situ­ation, in der er lebt« (1971), der, als er 1973 in der ARD lief, mit zur Gründung der HIB beitrug, ist ätzend kritisch und kämpferisch. Frank Ripplohs »Taxi zum Klo« von 1980, mit dem »Coming Out« den schwulen Lehrer als Hauptfigur teilt, ist dagegen ein hedonistischer Grundton zu eigen. Aus der Sicht dieser zweifachen Differenz scheint »Coming Out« in einer literarischen Tradition homosexueller Melancholie zu stehen, die durch die wichtigsten schwulen Schriftsteller – Hans Henny Jahnn, Guido Bachmann, Hubert Fichte, Ronald M. Schernikau, Detlev Meyer und andere – negiert, aufgebrochen, ironisiert wurde. Doch ­»Coming Out« weist der Melancholie eine andere Funktion zu, eine Funktion, die der Melancholie nur im real existierenden Sozialismus zukommen kann.

Eine Szene im Film zeigt Philipp mit seiner Schulklasse. Die Schüler haben einen Aufsatz über ein Brecht-Gedicht geschrieben, in dem eine Grabstein-Inschrift evoziert wird: »Er hat Vorschläge gemacht. Wir/ ­Haben sie angenommen.« Von den Aufsätzen, die er gelesen hat, ist ­Philipp enttäuscht: »Es geht doch nicht darum, was ich hören will«, sagt er. »Wie wollt ihr denn besser machen, was heute unvollkommen ist? Wie gegen Dummheit kämpfen, wenn ihr sie nicht bemerken wollt?« Hinter Philipps Bemühungen um eine initiative Pädagogik (die nun wieder deutlich an Ripploh erinnert) steht die Überzeugung, der Sozialismus sei nicht abzuschaffen, sondern zu reformieren. Das Verständnis von Emanzipation, das hier aufscheint, entspricht nicht dem der westdeutschen Schwulenbewegung. Vielmehr gemahnt es an Hans Mayer, den DDR-Literaturwissenschaftler, der 1963 in die BRD ging und dort Marxist blieb. Mayer formuliert in seinem Buch »Außenseiter« von 1975 eine Aufklärungskritik, die nicht, wie das heute üblich ist, das Projekt der Aufklärung verwirft, weil es zu »weiß«, »männlich«, »heterosexuell« und »eurozentrisch« sei, sondern die einfordert, dass »das Licht der Aufklärung« auch für die Außenseiter zu scheinen habe: »Dann wird Aufklärung«, schreibt Mayer, »von ihren bürgerlichen und geschichtlichen Ursprüngen abgelöst, zum Synonym einer permanenten Revolution.« Diese Argumenta­tion kehrt sich für die DDR um: der »Kontrast zwischen materialer und formaler Egalität« ist ein anderer als im Westen  – ein Kontrast bleibt er.
In einer anrührenden Szene in »Com­ing Out« sitzt der weinende Philipp mit einem älteren Schwulen in einer

Bar. Auf Philipps Klage: »Weißt du, was das heißt – Lehrer und schwul?« antwortet er trocken: »Es gibt Schlimmeres« und beginnt, von seinem KZ-Aufenthalt als Rosa-Winkel-Häftling zu erzählen und dann von der Zeit, als er als »Aktivist der ersten Stunde« in der Kommunistischen Partei mithalf, den Sozialismus aufzubauen. »Bloß die Schwulen, die haben wir vergessen«, lautet sein Fazit.

Das Goethe-Institut in Nikosia zeigte »Coming Out«, um auf die Vergangenheitsbewältigung des Vergangenheitsbewältigungsweltmeisters Deutschland hinzuweisen, und um in der bis heute geteilten Stadt den ungezogenen und uneinsichtigen Zyprioten die Wiedervereinigung schmackhaft zu machen. Dazu eignet sich Carows Film »Coming Out« denkbar schlecht.