Endspiel: Die Inszenierung vom 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz

Großes Theater

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Am Berliner Maxim-Gorki-Theater lief 1988 Volker Brauns »Die Übergangsgesellschaft«, die DDR als Tschechow’sche Tragikomödie zwischen Erschöpfung, Langeweile und ungerichtetem Aufbegehren. Und am Dresdner Staatsschauspiel wurden 1989 während Christoph Heins »Die Ritter der Tafelrunde«, die Versammlung um den greisen Artus dargestellt als Runde des endlosen Palavers, worin das Publikum eine Analogie zu einschlägigen Gremien des Staatsapparates zu erkennen vermochte, Resolutionen verlesen.

Nicht, dass das exemplarische Aufführungen für das gesamte DDR-Theater waren, aber sie waren exemplarisch für eine in den Theatern vorhandene Wendestimmung. Das sich später einiges wendete, so wie es die Künstler und Intellektuellen nicht beabsichtigt hatten, gehört auch zu dieser Geschichte.

Volker Braun beschrieb das 1990 in seinem Gedicht »Das Eigentum«: »Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen./KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN./Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.«
Intellektuellendämmerung wie in »Hamlet«? Mit dem 9. November hatte sich die Situation verändert. Heiner Müller und die Schauspieler waren vom Alexanderplatz wieder ins Deutsche Theater zurückgekehrt und probten weiter. Im März 1990 kam die knapp achtstündige Inszenierung zur Aufführung. Ulrich Mühe stand an der Rampe und sprach Verse aus der »Hamletmaschine«: »Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Die Glocken läuteten das Staatsbegräbnis ein.« Wer ist der Geist des Vaters? Stalin. Und wer Fortinbras, der geistlose Eroberer?

Müller legte sich fest: Fortinbras ist die Deutsche Bank, die nun die Geschäfte übernimmt und die Geschichte bestimmt. »Aus Ideen werden Märkte«, warb das Unternehmen damals. Am Ende siegt das Kapital. Einen Monat vor der Premiere wurde in Leipzig auf Demonstrationen »Kommt die D-Mark, bleiben wir – kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!« skandiert, im Juli kam sie dann, die D-Mark, als Vorbotin der proklamierten Einheit.

»Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf Deutsche«, kommentierte Müller lakonisch den ­teutonischen Wiedervereinigungstaumel. Das war auch ein intellek­tueller Rückzug vor der hässlichen Wirklichkeit. Castorf sagte 1993 rückblickend: »Viele Punks und Intellektuelle trauern um den ›dritten Weg‹, der aber keine ökonomische Basis hatte, weil viele wichtige soziale Gruppen sich unter Honecker aus dem gesellschaftlichen Leben in ihre Kleingärten zurückge­zogen hatten und ansonsten das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern spielten: Jeder weiß Bescheid, aber keiner sagt, was er sieht. An dieser Dekadenz ist die DDR innenpolitisch erstickt.« Die Wende begann lange vor 1989. Am 4. November auf dem Alexanderplatz kam ein heroisch inszeniertes Endspiel zur Aufführung. Es war der Endpunkt der Tra­gödie der Intellektuellen in der DDR, wie in »Hamlet/Maschine«. Hamlet war für Müller auch ein Beispiel für das »Versagen von Intellektuellen in bestimmten historischen Phasen«. Es war für ihn ein »stellvertretendes Versagen«: stellvertretend für das Unvermögen der Menschheit, die Welt nach Maßgaben der Vernunft, nicht des Kapitals einzurichten.