Die Wende brachte nur Deutschland für alle

Lambada für Lenin

Als die Mauer fiel, war ich 14 und für einen Familiengeburtstag zum Schnittchenschmieren verdonnert worden. Im Radio lief »Lambada«. Aus einer Durchreiche, die die Küche mit dem Wohnzimmer verband, beobachtete ich missgelaunt, wie die Gäste immer fröhlicher, lauter und körperlicher miteinander wurden. Das Gerücht von der Grenzöffnung klang so unwahrscheinlich, dass es sofort wieder unter den Tisch fiel, als ein Nachbar die nächste Flasche Sekt mit lautem Knall zum Überlaufen brachte. Übergelaufen waren in den zurückliegenden Monaten einige. Rübergemacht. Am Tisch war man sich uneins, wie das zu bewerten sei. Alles Verräter? Arme Seelen? Durchgeknallte? Helden? Deutschland, das war Vergangenheit, oder die BRD, gehörte den Konzernen. Ich hatte keine Ahnung, dass Deutschland binnen der nächsten Monate uns alle aufsaugen und zusammenklumpen würde. Fahnenmeere, hymnenstoisch. Deutschland. Über alles.

Die Implosion erfolgte scheinbar in Zeitlupe. Ein ähnlicher Effekt, wie man ihn von den Bildern ein- stürzender Neubauten her kennt.

Die weltgeschichtliche Zäsur, die das Jahr 1989 bedeutete, die radikalen Veränderungen, die der Systemzusammenbruch des Sowjetreichs mit sich brachte, waren unter dem Eindruck der unmittelbaren Ereignisse, zumal für mich als Teenager, nicht zu überblicken. Die Implosion erfolgte scheinbar in Zeitlupe. Ein ähnlicher Effekt, wie man ihn von den Bildern einstürzender Neubauten her kennt. Und doch zerbarst, zerfiel alles in rasender Geschwindigkeit. Die Mauer hatte zwei Welten getrennt, die einander unversöhnlich gegenüberstanden. So was verflüchtigt sich nicht über Nacht. Drüben war drüben geblieben. Die einen erschraken in sicherer Distanz. Die andern steckten mittendrin. Demonstrationen, Menschenketten, Panzer am Platz des himmlischen Friedens, Tote, Mahnwachen, Nachrichten von Verhaftungen, fliehende Menschen, schreiende Menschen, kämpfende Menschen, alle außer sich. Das Rauschen der Bilder in den Köpfen schien nie mehr enden zu wollen. Das Gefühl, nichts mehr zu begreifen. Auch in unserer kleinen Stadt war etwas in Bewegung gekommen. Daran waren aufrührerische Gestalten schuld, die sich im Schutz der alten Kirche trafen, die ich nie betreten hatte. Diese Männer und Frauen waren meist jünger als meine Eltern, galten denen als »so Künstler­typen«, was vor allem aus dem Munde meine Mutter abfällig klang. Nun stellten sie in Reden, die bis nach draußen drangen, und auf Flugblättern, die vom Kirchturm segelten, unerhörte Fragen. Danach, in was für einem Land wir leben wollten. Danach, was fehle und was es nie mehr geben solle. Im Strudel der Ereignisse, Kundgebungen, Versammlungen, wortreich geführten Debatten im ganzen Land, artikulierte sich in Sprechchören und Losungen lautstark ein anderer Wille: »Deutschland – einig Vaterland«. Noch bevor mir dazu auch nur ein vernünftiger Gedanke einfiel, landeten wir – im Gegensatz zu unseren sowjetischen, polnischen oder tschechoslowakischen Brüdern und Schwestern – plötzlich im Westen. Ohne Umzug. Einfach so.

Das Bunte floss ins Grau. Staub und Patina der ruinösen ostdeutschen Innenstädte standen gegen die quietschebunt-aufgeräumte Reklamewelt des Westens. Aber das waren nur Äußerlichkeiten, die nun als wesentlich galten. Ein Schüleraustausch brachte eine Westklasse und mit ihr die schüchterne Tanja zu uns nach Haus. Ihre Eltern hatten ihr Essen mitgegeben, weil sie dachten, wir würden in Lumpen herumlaufen und Brot nur auf Zuteilung bekommen. Dessen ungeachtet servierte mein Vater ihr und den anderen Gästen, die ich in mein kleines Zimmer unterm Dach eingeladen hatte, Rumtopf. Wir saßen dichtgedrängt auf dem Boden, die gehaltvollen, eingelegten Früchte lockerten unsere Zungen, doch die Gespräche verliefen merkwürdig. Als redeten wir in unterschiedlichen Sprachen, gerade dann, wenn wir gemeinsames Vokabular nutzten. Zum Glück konnte einer Gitarre spielen. Doch uns fiel kein Lied ein, das wir zusammen hätten singen können.

Diese Begegnung blieb eine Randnotiz. Denn in den kommenden Wochen und Monaten erlebten wir die Folgen des Ausverkaufs und Verramschtwerdens, mit dem ­breite Schneisen in das Sozialgefüge geschlagen wurden. Zuerst die Frauen. Massenhaft. Überflüssig. Nicht rentabel.

 

Weniger existentiell und dennoch verwirrend war das Auftreten des neuen West-Lehrers. Er unterrichtete im Sitzen, dozierte blicklos und schien wenig Interesse an uns zu haben. Sie hatten einen verbitterten Offizier durch einen nuschelnden Bürokraten ersetzt, den Zeitstrahl zum Kommunismus durch – nichts. Ich begann, die Schule zu schwänzen, stieß auf einem meiner Spaziergänge durch den Ort auf einen »A-Laden«, eine Sammlung anarchistischer Grundlagenliteratur und Klassiker. Die Betreiber waren »so Künstlertypen«, wir verstanden uns auf Anhieb. »Kinderkrankheit« hin oder her: Lesen bildet. Die Radikalität der Gedanken und Ideen, der beschriebenen Utopien einer Gesellschaft der Freien entsprach meiner stärksten Sehnsucht. Denn so, wie es war, konnte es ja schlecht bleiben, oder? Genauso plötzlich, wie ich nun Deutsche sein sollte, könnte es doch gleich ums Ganze gehen, um die Welt und die unbeantworteten Fragen der Künstlermenschen und Aufrührer aller Zeiten. Mein anerzogener sozialer Enthusiasmus war wieder kanalisiert.

In meiner Alterskohorte grassierten unzählige Spielformen ideologischer Verwerfungen. Sekten und Supermärkte feierten Konjunktur. Endlich konsumieren, haben wollen und bekommen! Andere suchten das Gegenteil, zogen aufs Land und verweigerten sich jeglichen zivilisatorischen ­Errungenschaften. In Windeseile ent­wickelte sich der organisierte Rechtsextremismus, flankiert von Betriebsschließungen und Massenarbeitslosigkeit, zum Massenphänomen. Der latent rassistische und gleichmachende Straßenterror zwang uns eine Entscheidung ab: »Sag mir, wo du stehst.« Wie oft hatte ich dieses Lied gesungen? Immer brav mitgemacht beim Marschieren und Behaupten. Still gestanden und geschwiegen, wenn einer ungerecht behandelt worden war. Ob sie mich deshalb jagten? Die Explosion der Zweifel. Ich hatte inzwischen kapiert, dass mich meine Eltern und Lehrer belogen hatten, was den Zustand der Welt und die Zukunft des Sozialismus betraf. So wie ich mich selbst belogen hatte. Ich hatte begriffen, dass manche Freunde, Mitschüler und Nachbarskinder das lange vor mir gewusst hatten. Und doch weigerte ich mich, »die Idee« loszulassen. Nicht einmal aus Angst.

Wenn sich Menschen entgegen ihren ureigenen Interessen verhalten, dann können sie sich genauso gut freiwillig dafür entscheiden. Wäre das so überraschend? Im Laufe der Jahrzehnte sind die Leute nicht nur in Deutschland all den unfassbaren Gräueln, den Nazi-Verbrechen, den Opfern von Krieg und Vernichtung zum Trotz, immer weiter oder wieder dem nationalen Taumel erlegen. Der Propaganda des Hasses. Den Gefühlen von Erhabenheit, den sentimentalen Anwandlungen gegenüber ausschließlich sich selbst.

Heiner Müller hatte die Mauer einmal »Stalins Denkmal für Rosa Luxemburg« genannt. Ein Symbol des Scheiterns der sozialen Revolution. Es würde neue Mauern geben, von anderer Architektur: Frontex und die EU-Außengrenzen. Nur lässt sich ein verzweifelter Mensch so wenig aufhalten wie der Wind. Die Liste der Toten wird länger. Und mit ihr die Notwendigkeit, die Welt, wie sie ist, radikal zu verändern. Die bestand vor, während der und nach den Ereignissen von 1989.