Wie Sonic Youth die Musik der neunziger Jahre prägten

Verblödung minus Utopie

1989 wechselten Sonic Youth von einem Indie- auf ein Majorlabel und prägten mit diesem Schritt die Musik der frühen neunziger Jahre.

Lou Reed besang oder besser, trug wie ein Dichter bei einer Lesung die Liebe zu seiner Heimatstadt New York vor, David Hasselhoff begab sich auf die Suche nach Freiheit und Madonna betete Gott (oder doch eher ihren Geliebten) an. Mit der »Queen of Pop« hat auch ein weiteres Album zu tun, das im Jahr 1989, von dem hier die Rede ist, veröffentlicht wurde: »The Whitey Album« heißt es, der Titel eine parodistische Anspielung auf das »weiße Album« der Beatles. Statt Songs der Jungs aus Liverpool oder wenigstens etwas, das entfernt nach ihnen klang, fanden sich auf der Platte aber allerlei durch Experimente mit Samples entstandene eigene Stücke, Coverversionen von Robert Palmer und eben auch von zwei Madonna-Hits, deren stark vergrößertes Gesicht inklusive Leberfleck auch das Cover zierte. Zusätzlich wurde im extra für das Album erfundenen Namen der Band die ­Königin des Pops der Achtziger gewürdigt: Sonic Youth gaben sich den Namen Cic­c­one Youth – Ciccone ist der bürger­liche Nachname von Madonna.

Elektronische Spielereien und Samples waren ein Novum für die Band, die sich 1981 gegründet hatte. Auf ihren vorherigen Alben war der Sound von absichtlich falsch gestimmten und gespielten Gitarren geprägt, eine Stilmischung aus den britischen Post-Punkern The Fall und dem avantgardistischen Komponisten Glenn Branca. Ein von der Band Anfang der Achtziger initiiertes Fes­tival mit dem Titel »New York Noise« brachte ihrer Musik die Bezeichnung Noise Rock ein. Mit dem »Whitey Album«, so scherzte die Band, schuf sie allerdings ihre eigene »Licensed to Ill«, eine Referenz an das Debütalbum der Beastie Boys von 1986, mit denen sie gut befreundet waren. Im zehnten Song des Albums von Cic­cone Youth »Two Cool Rock Chicks Listening to Neu« hört man Kim Gordon und Suzanne Sasic darüber reden, dass Gordon die Band Dinosaur Jr. managen sollte, während im Hintergrund ein Lied der Krautrockband Neu! läuft, das schlagartig durch ein brutales Gitarrensolo unterbrochen wird, das wiederum von J Mascis gespielt wird, dem Sänger und Gitarristen von Dinosaur Jr.

J Mascis, der langhaarige Gitarren­nerd, war ein Jahr vorher in einem Lied von Sonic Youth aufgetaucht, das eines der wichtigsten ihrer Karriere werden sollte: »Teenage Riot«, das ursprünglich »Rock and Roll For President« heißen sollte. In dem Opener des Albums »Daydream Nation« ­kürte Sänger Thurston Moore J Mascis kurzerhand zum alternativen Präsidenten der Vereinigten Staaten, um Ronald Reagan zu ersetzen. Was ­Margaret Thatcher für den Punk des Vereinigten Königreichs gewesen war, das war Reagan für die Punks in den USA: eine unerschöpfliche Ins­pirationsquelle.

Seit 1986, also dem Album »Evol«, arbeiteten Sonic Youth mit dem Undergroundlabel SST zusammen, das 1978 von dem Black-Flag-Gitarristen Greg Ginn gegründet worden war und Bands wie Hüsker Dü und Minutemen unter Vertrag hatte. Obwohl die Band, wie der Gitarrist von Sonic Youth, Lee Ranaldo, einmal sagte, alles dafür getan hätte, bei diesem Labels zu sein, beendeten sie doch zwei Jahre später die Zusammenarbeit. Der Grund: Geld. Thurston Moore sprach sogar während eines Konzerts darüber und erzählte dem Publikum: »SST schuldet uns Geld. Das ist wirklich zum Totlachen.«

Utopisch war »Daydream Nation«, ganz im Sinne von Ernst Bloch, als ein »Denken nach vorn«, und zwar nicht zwangsläufig in den Texten, sondern durch ein musikalisches Spiel mit der Zukunft.

Ihr Album »Daydream Nation« erschien so auf dem Indielabel Enigma, am 18. Oktober 1988. Das Cover zierte ein Bild Gerhard Richters, die berühmte Kerze. Dieses Bild des selbsternannten »kapitalistischen Realisten« Richter wurde auf dem Cover des Bootleg in Russland durch ein Foto einer Kerze ersetzt, anscheinend konnte man in der Sowjetunion keine ordentliche Abbildung von Richters Kerze zur Reproduktion finden. Die Produktion von »Daydream Nation« war die bis dato teuerste der Band, 30 000 Dollar zahlten sie, was Thurston Moore zu der Feststellung brachte, das Album sei »our first non-econo record«. Ihr erstes unökonomisches Album sollte allerdings nicht nur für sie, sondern für eine ganze Reihe von Bands der Anfang einer Geschichte sein, in der es um künstlerische Freiheit und gleichzei­tiges ökonomisches Überleben geht.

Utopisch war »Daydream Nation«, ganz im Sinne von Ernst Bloch, als ein »Denken nach vorn«, und zwar nicht zwangsläufig in den Texten, sondern durch ein musikalisches Spiel mit diesem »vorn«, mit der fortlaufenden Zeit, der Zukunft. So haben einige der zwölf Lieder eine Coda, teilweise sind die Outros drei Minuten lang. Minuten, in denen die Lieder ihr eigenes Zu-Ende-Gehen ze­lebrieren, es kontinuierlich ankündigen, und doch immer weitergespielt wird. Das hatte nichts mehr mit Punkrock zu tun, entzog sich den stets der reinen Präsenz huldigenden State­ments: Punk, das waren zwei Mi­nuten und 30 Sekunden, »No Future« in Akkorden. Die Musik von Sonic Youth dagegen implizierte immer eine Zukunft, in die sie sich ausdehnte und hinzog. Auch war sie in dem Sinne in die Zukunft gerichtet, als dass die Art der Band zu spielen etwas völlig Neues war, innovativ und äußerst inspirierend für junge Musiker. Während der Sound in die Zukunft wies, die er doch auch gleichzeitig verneinte, wiesen Texte und Konzept der Platte in die Vergangenheit, und zwar nicht in den Underground, sondern in die Vergangenheit des Mainstream: Referenzen an Joni Mitchell und ZZ Top finden sich, auf den vier Vinylseiten prangen Sym­bole, die an das vierte Album von Led Zeppelin erinnern. Auch das Format des Doppelalbums gehörte einer vergangenen Zeit an.

 

Sonic Youths Utopie wurde nicht wahr: Statt J Mascis wurde George H. W. Bush Präsident, aber nur offiziell: Inoffizieller Anführer, zumindest der musikhörenden Jugend, war spätestens seit 1991 Kurt Cobain. Dessen Band Nirvana wäre wohl nie außerhalb von Washington State bekannt geworden, wären da nicht Sonic Youth gewesen. Sie freundeten sich an, gingen zusammen auf Tour und vermittelten Nirvana an ihr eigenes, neues Majorlabel Geffen Records, wo »Nevermind« 1992 erschien.

Nach »Daydream Nation« war die Band ausgelaugt. Sie erhielt zwar hervorragende Kritiken für das Album und waren ja bereits subkul­turelle Heroen, doch finanziell wirkte sich das nicht aus. Die Verkaufszahlen blieben unter den Erwartungen, mit den Strukturen der Indie-Musikbranche gab es nur Ärger, und wie sich Thurston Moore in David Brownes Biographie der Band erinnert, war auf einem großen Label auch »eine professionelle Veröffentlichung und Abrechnung plus ­Krankenversicherung« zu haben. Außerdem wunderten sich die Mit­glieder, wie ihr abwegiger Sound klingen würde, wenn er mit mehr Geld, also aufwendiger aufgenommen werden würde, wie eine kommerzielle Platte einer großen Rockband. Die Band aus dem New Yorker Underground begann im Sommer 1989 Verhandlungen mit dem Label Geffen, die schließlich erfolgreich waren. Ihr vorheriges Label Enigma löste sich 1991 aufgrund von Geldproblemen auf.

Im Sommer 1990, nachdem ihr Album »Goo« erschienen war, interviewte der MTV-Moderator Dave Kendall Thurston Moore und Steve Shelley und fragte gleich zu Beginn: »Wie oft wurdet ihr in den letzten Monaten gefragt, ob ihr euch restlos verkauft habt, jetzt, da ihr einen Deal mit einem Majorlabel habt?« Moore antwortete mit reichlich Lakonie in der Stimme: »Du bist der Erste!« Natürlich war das nicht so: Nicht nur von außen war der Druck groß, auch die Band selber hatte Angst, ihre ­Seele dadurch zu verkaufen, dass sie jetzt mit der Musikindustrie arbeiteten. Trotzdem blieben sie integer: sie ließen sich volle künstlerische Freiheit garantieren, setzten als Produzen­ten lauter Musiker aus der Szene ein und fingen einmal mehr damit an, Pop­referenzen zu streuen, die für ein Mainstream-Publikum gar nicht so leicht zu verstehen waren. Ende der Achtziger lechzte der Musikmarkt nach Gitarrenmusik, das machte die Labels erpressbar. Indem Sonic Youth mutig genug waren, den Indielabels den Rücken zu kehren und sich auf die Musikindustrie einzulassen, verbogen nicht sie sich, sondern sie verbogen die Industrie und wurden belohnt mit besseren Produktionsmitteln und der Möglichkeit, den Boden für junge Bands zu bereiten.

So ist es kein Wunder, dass Anfang der neunziger Jahre die Zeit war, in der massenhaft Gitarrenbands gegründet wurden, die nicht nur die Musikszene immens prägten und Bekanntheit erlangten, sondern auch alle mit Sonic Youth verbandelt waren, obwohl sie den Majorlabeln zum Teil extrem kritisch gegenüberstanden: Riot Grrrl entstand, was ohne den Einfluss von Kim Gordon, die sich jahrelang als »Girl in a Band« gehalten hatte, kaum möglich schien (zwischen Gordon und Bikini-Kill-Sängerin Kathleen Hanna besteht darüber hinaus eine Freundschaft). Noise-Rock-Bands wie The Jesus Lizard, Unwound, die Cows oder Fugazi gründeten sich, ebenso Indiebands wie Pavement (deren Bassist Mark Ibold später fünftes Mitglied von Sonic Youth werden sollte) oder die Breeders, bei deren Video zum weltweiten Hit »Cannonball« Kim Gordon Regie führte. Auch ein Musiker wie der selbsternannte Loser Beck verdankt Sonic Youth eine Menge: Thurston Moore unterstützte ihn enorm und empfahl ihn ebenfalls an Geffen Records. Und dann war da eben auch noch Grunge: Das erste Album von Hole produzierte Kim Gordon, da kannten sich Courtney Love und Kurt Cobain noch gar nicht. Und die Zeit, in der Punk endgültig tot sein sollte, kam zwar ein paar Jahre später, wurde aber von Sonic Youth und Nirvana gemeinsam auf das Jahr 1991 datiert, in dem sie ihre gemeinsame Europa-Tour »The Year Punk Broke« nannten.

Nirvana verkauften ein Jahr später mindestens zehn Millionen Kopien von »Nevermind«, während die mittlerweile elf Jahre bestehenden Sonic Youth von David Letterman in seiner Show als eine »exciting young band« angekündigt wurden. Obwohl die Band sogar versuchte, »kommerzieller« zu klingen, gelang ihr der klas­sische Durchbruch nicht. Ihre Rolle war die der Wegbereiter, der Avantgarde. Zeitweise dachten sie daran, sich aufzulösen, nicht nur aus gekränkter Eitelkeit heraus, sondern auch aufgrund finanzieller Probleme.

Sonic Youth aber machten weiter. Sie behielten ihre Kompromisslosigkeit und veröffentlichten mit »Wash­ing Machine« und »A Thousand ­Leaves« mitten in den Neunzigern zwei Alben, die so kompliziert, so experimentell und so radikal klingen, dass man sie niemals als Release einer großen Plattenfirma vermuten würde. Zusätzlich gründeten sie ihr eigenes Label Sonic Youth Records, auf dem sie in regelmäßigen Abständen Jamsessions veröffentlichten. Ihr Wechsel zum Majorlabel hatte keine viel beschworene oder befürchtete »Kommerzialisierung« zur Folge: sie erlaubte der Band erst richtig, ihren eigenen Sound zu entwickeln und damit ein größeres Publikum zu erreichen und Geld zu verdienen.

Sonic Youth lösten sich 2011 auf. Ihr letztes Album mit dem pragmatischen Titel »The Eternal« (Das Ewige) veröffentlichten sie wiederum als erstes Album seit »Goo« wieder auf ei­nem Indielabel, nämlich bei Matador.

Die ersten Jahre der Neunziger waren also eine Zeit, in der die Loser, die Nerds, die Schlechtgelaunten und die Außenseiter bei MTV liefen und Platten verkauften. In einer Zeit, in der das Ende der Geschichte verkündet wurde, streuten diese Bands nicht nur Referenzen an die eigene, nämlich die vergangene Musikgeschichte und trugen sie hinein in eine, wenn auch zuweilen pessimistisch gesehene Zukunft, sondern sie produzierten selbst Geschichten: Anekdoten, Songtexte, Szenen und Diskussionen. Seit der einstige Detroit Rock der Stooges oder MC5 vollends durch den Detroit Techno verdrängt worden ist und Gitarren in der Musik kaum noch eine Rolle spielen, geht auch immer mehr Geschichte verloren. Techno kennt weder eine Vergangenheit, noch eine Zukunft: Techno kennt allein die brutale und endlose Gegenwart auf der Tanzfläche, das banale Sein im Moment. Keine Melodie, an die man sich erinnern könnte, kein Songtext, der etwas erzählt.

Diedrich Diederichsen besprach »Daydream Nation« damals für die Spex und attestierte der Platte und gleichzeitig der gesamten Musik eine Dialektik zwischen gutem Traum und Dämmerzustand, zwischen der Verkündung von »bad news« und dem Sich-erheben über die Verhältnisse. Sein Text trug den Titel »Utopie und Verblödung«. Heute scheint es so, als sei davon nur noch die Verblödung übrig geblieben.