Im indischen Kolkata weht ein kosmopolitischer Geist

Aus Migration entstanden

Seite 2 – Von einer Stadt der Migration zu einer Stadt der Zuflucht
Reportage Von

Die Aufhebung des Handelsmonopols der Ostindien-Kompanie öffnete die Stadt für viele weitere Kaufleute und Flüchtlinge aus aller Welt. Zunächst ­kamen vertriebene Parsen, die dem zoroastrischen Glauben folgten, aus dem heutigen Iran, Geldleiher aus Kabul und jüdische Stoffhändler, insbesondere aus Bagdad. Die sogenannten Bagh­dadi Jews von Kalkutta waren politisch wie kulturell einflussreich und zählten bis zur Unabhängigkeit Indiens rund 35 000 Menschen. Weil sie ihre Zukunft im neuen indischen Nationalstaat als ungewiss ansahen, wanderten die meisten von ihnen nach England, Kanada, Australien und Israel aus. Heutzutage leben offiziell nur noch 20 Mitglieder dieser Minderheit in Kolkata, die meisten sind über 70 Jahre alt und nur noch selten kommen die zehn gläubigen Männer zusammen, die es für einen jüdischen Gottesdienst braucht. Doch es gibt noch drei gut erhaltene Syna­gogen. Die Eingänge sind zwischen Garküchen und Marktständen im quirligen Stadtteil Bara Bazaar versteckt, dem historischen Zentrum Kolkatas.

Bis heute wird das alte Zentrum der Stadt um Bara Bazaar auch »Cosmo­politan Town« genannt. Das historische Weltbürgertum Kalkuttas beschreibt der Historiker und Kulturwissenschaftler Malte Fuhrmann mit dem Begriff »Hafenkosmopolitismus«.

Dort wo später Bara Bazaar entstand, errichtete Agha Jacob Nazar 1724 die Armenische Heilige Kirche von Nazareth. Sie ist die älteste Kirche der Stadt. Die armenischen Kaufleute von Kalkutta betrieben Reedereien und Kohlebergwerke, waren im Indigo- und Schellack-Geschäft tätig und gründeten, wie auch die Baghdadi Jews, Armenhäuser und Schulen in der Stadt. Gleich auf der anderen Straßenseite der Brabourne Street, der Hauptverkehrsader von Bara Bazaar, steht die älteste ­katholische Kirche Indiens: die farbenfrohe Kathedrale des Heilige Rosenkranzes. Sie wurde 1799 von der portugiesischen Gemeinde Kalkuttas fertig­gestellt. Heutzutage hat sie noch etwa 800 Mitglieder.

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Ein kleiner Hindu-Altar im Park am Subhas-Sarovar-See

Bild:
Stefanie Kron

In Tiretta Bazaar und Tyangra im Südosten der Altstadt befinden sich die beiden China-Towns Kolkatas. Die Einwanderung aus China setzte ebenfalls im 19. Jahrhundert ein. Die gegenwärtig 2 000 Menschen zählende chinesische Gemeinde der Stadt ist für ihre Gerbereien und die Herstellung von Porzellan bekannt.


Die Verlegung der Hauptstadt Britisch-Indiens nach Neu-Delhi im Jahr 1911 läutete das Ende der Blütezeit Kalkuttas ein, wobei die Stadt nach wie vor als ­intellektuelles Zentrum Indiens gilt. Sie ist jedoch von einer Stadt der Migration zu einer der Zuflucht geworden. So überquerten im Zuge des Unabhängigkeitskriegs Bangladeshs 1971 weitere sechs Millionen Menschen die Grenze zu Westbengalen. Hinzu kommen heutzutage ungezählte Umweltflüchtlinge und Arbeitsmigranten aus Bangladesh, aus den ländlichen Regionen Westbengalens und anderen Teilen Indiens sowie Rohingya aus Myanmar. Die meisten von ihnen, insgesamt ein Drittel der Bewohner Kolkatas, leben auf besetztem Land und in Slums an den Flussufern und den Rändern der Stadt. Daran änderte auch die zwischen 1977 und 2011 in Westbengalen regierende Kommunistische Partei Indiens nur wenig.

Bis heute wird das alte Zentrum der Stadt um Bara Bazaar auch »Cosmo­politan Town« genannt. Das historische Weltbürgertum Kalkuttas beschreibt der Historiker und Kulturwissenschaftler Malte Fuhrmann mit dem Begriff »Hafenkosmopolitismus«. Hafenstädte, schreibt Fuhrmann, trügen zum Verständnis »historisch gelebter Diversität im urbanen Raum« bei. Dabei ­gelte es, weder die Herrschaft des britischen Empire zu beschönigen noch die Unterschicht oder den indischen Territorialstaat für den Verfall »maritimer Kultur« mit ihren kosmopolitischen Lebensweisen verantwortlich zu machen. Die Historiker Markus Rediker und Peter Linebaugh zeigen am Beispiel der transnationalen Dimension der ­sozialen Beziehungen und Kämpfe von Matrosen, Piraten und Hafenarbeitern sogar, dass der Kosmoplitismus keineswegs nur eine Sache von transnatio­nalen Handel treibenden Kaufleuten oder von Intellektuellen aus der Oberschicht war. Auch die proletarischen Klassen trugen das ihre zum Kosmo­politismus bei. Dieser wird sich daran messen lassen müssen, ob es gelingt, die vielen Staatenlosen und an den Rand Gedrängten zu Stadtbürgerinnen und -bürgern zu machen.