Platte Buch - »Erinnerungen eines Mädchens« von Annie Ernaux

Das erste Mal

Kolumne Von

Die Geschichte wurde in französischen Büchern und Filmen immer wieder erzählt: Ein junges Mädchen fährt in die großen Ferien und erlebt sein erstes Mal. Der Stoff steht längst unter dem Verdacht, Altherrenphantasien zu bedienen. Wie ganz anders klingt es nun, wenn Annie Ernaux die zum Klischee erstarrte Geschichte vom Erwachen des weiblichen Begehrens erzählt. Dabei ist ihre Schilderung der sexuellen Initiation nicht weniger explizit als die ihrer männlichen Kollegen.

»Erinnerungen eines Mädchens« rekonstruiert den Sommer 1958, den die damals 18jährige Annie als ­Betreuerin in einer französischen Ferien­kolonie verbringt. Sie verliebt sich in einen älteren Sportlehrer und erlebt mit ihm das erste Mal, dessen sie sich lebenslang schämt, weil es so ganz anders ist, als es sich das katholische Mädchen aus der Provinz heimlich erträumt. Schon am nächsten Tag will der junge Mann nichts mehr von ihr wissen und liefert sie dem Spott der Clique aus. Das Gefühl der Erniedrigung, aber auch der Stolz, gegen die Konven­tionen ihrer Herkunft verstoßen zu haben, wirken ein Leben lang nach.

Als inzwischen älter gewordene Frau versucht Annie zu verstehen, wie sie damals dachte, fühlte und handelte. Sie fragt nach dem Allgemeinen und dem Besonderen ihrer Geschichte, nach dem Einfluss von Kirche, Erziehung und Mode, und nach der Kluft, die sich zwischen dem Geschehen und der Bedeutung auftut, die sie ihm im Nachhinein beigemessen hat. In der Rückschau erscheint ihr das Mädchen, das sie war, wie eine andere Person, von ihm in der Ich-Form zu erzählen, ist ihr nicht möglich. Er­naux schreibt über sich in der dritten Person als »das Mädchen«.

Das Buch ist ein Meisterwerk des autobiographischen Schreibens, das den eigenen Umgang mit den Erinnerungen der Jugend verändert. Die Art, wie man auf Erlebtes zurückblickt, ist nach der Lektüre eine andere als vorher.

Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens. Aus dem Franzö­sischen von Sonja Finck. Suhrkamp, Berlin 2018, 164 Seiten, 20 Euro