Alfons Söllners neues Buch »Political Scholar – Zur Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts«

Nie mehr heimisch

Walter Benjamin, Leo Löwenthal, Leo Strauss, Franz Neumann, Hannah Arendt und Theodor W. Adorno wurden durch politische Verfolgung und Flucht, durch Exil und den drohenden Holocaust aus ihrem Wirkungsfeld herausgerissen und mussten sich neu orientieren. Der Politologe Alfons Söllner erkundet ihre Rolle in der Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts.

Das 20. Jahrhundert gilt, so der Historiker Eric Hobsbawm, als das »Zeit­alter der Extreme«. Die beiden Weltkriege und vor allem die Vernichtung der europäischen Juden stehen für die großen Katastrophen der Epoche. Im Schatten dieser Katastrophen entwickelte sich aber auch das, was Alfons Söllner, emeritierter Politologe der TU Chemnitz, als »Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts« beschreibt.

Sein neues Buch »Political Scholar« widmet sich dem Schaffen einflussreicher Theoretiker wie Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Leo Löwenthal, Franz Neumann und Leo Strauss. Die in dem Band enthaltenen Essays sind in den vergangenen knapp 15 Jahren entstanden; sie ergeben ein Gesamtbild des »Political Scholar« und dessen abstrakt-theoretischer wie politisch-praktischer Tätigkeit. Und auch wenn die porträtierten Wissenschaftler völlig unterschiedliche Vorhaben verfolgten, so hatten sie eines gemein: Sie wurden durch ihre jüdische Herkunft mit der Machtübernahme 1933 zu Verfolgten des NS-Regimes und mussten die Flucht antreten.

Für Söllner befinden sich die ­»Political Scholars« in einer »exponierten Situation«. Als Menschen, denen die »Dissidenz zum Lebensschicksal geworden ist, sind sie die politischen Intellektuellen par excellence«. Die Protagonisten seien da­bei aber »weder die Weichensteller der politischen Geschichte noch gar die Demiurgen von weltgeschichtlichen Umbrüchen«.

Der »Political Scholar« wurde durch »politische Verfolgung und Flucht, durch Exil und die Drohung des Holocaust aus seinem angestammten Wirkungsfeld herausgerissen und musste sich in einem ungewohnten Umfeld, oft im westlichen Ausland, neu orientieren.« Waren diese Intellektuellen »erfolgreich, dann erwuchsen daraus große Wirkungsmöglichkeiten; scheiterten sie jedoch, dann konnte der Sturz in die Resignation besonders tief sein«.

Gemeinsam war ihnen zudem das Misstrauen gegen die deutsche Bevölkerung. Abgesehen von Adorno, der 1949 nach Frankfurt am Main zurückkehrte, blieben die Porträtierten im Exil: Arendt, Löwenthal und Strauss ließen sich in den USA nieder, Benjamin hatte 1940 auf der Flucht vor den Nazis den Freitod gewählt. Franz Neumann, Autor der 1942 ­erschienenen Studie »Struktur und Praxis des Nationalsozialismus«, wurde nie mehr heimisch. Bis zu seinem Tod bei einem Autounfall in der Schweiz im Jahr 1954 pendelte er ständig zwischen den USA und Europa, hatte Lehraufträge an der Columbia University New York und der FU Berlin und verfolgte interdisziplinäre Projekte an Universitäten in aller Welt.

Für Söllner ist er »ein exponierter Emigrant (…), der in einer existenziellen Zusammenschau von persönlicher Lebensgeschichte und kritischer Wissenschaftsgeschichte die Emigrationserfahrung zum entscheidenden Medium erklärte, in dem sich ein regelrechter neuer Gelehrtentypus herausbildetet«. Seine Rastlosigkeit lässt sich auch mit dem Misstrauen gegen die Deutschen erklären, das er während des Zweiten Weltkriegs als Mitarbeiter des US-amerikanischen Geheimdienstes erlangt hatte und das er zeitlebens nicht mehr ablegen sollte. »Was sich als das neue demokratische System herauskristallisiert, betrachtet Neumann mit großer Skepsis«, schreibt Söllner. »Dahinter steht die bohrende Frage, wie, sozusagen über Nacht, aus einer erkennbar pronazistischen Mehrheit ein genuin prodemokratisches Volk hervorgegangen sein soll.«

Söllner nähert sich den Biogra­phien seiner Protagonisten oft über familiäre Konflikte, die prägend ­waren. Er zitiert den Soziologen Leo Löwenthal: »Ich bin ein Rebell ge­wesen, und alles, was damals intellektuell oppositionell war, also, wie Benjamin sagt, auf der Seite der Verlierer im Weltprozess, das zog mich magisch an. Ich war Sozialist, Anhänger der Psychoanalyse, Anhänger der Phänomenologie in neukantianischen Kreisen. (…) Es war also eine geradezu synkretistische Ansammlung in meinem Hirn und in meinem Herzen von Bestrebungen, Richtungen und Philosophien, die im Gegensatz zum Bestehenden standen.«

In der Studie »Vorurteilsbilder. Antisemitismus unter amerikanischen Arbeitern«, die er im Jahr 1945 gemeinsam mit anderen Vertretern des »Institute of Social Research« an der New Yorker Columbia University anfertigte, kommt Löwenthal zu der Schlussfolgerung: »Der Hass auf den Juden ist der Hass auf das Indi­viduum.« In Anlehnung an Adorno bezieht sich Löwenthal allerdings nicht auf das »liquidierte Individuum«, das nicht mit sich selbst, sondern mit den Verhältnissen identisch ist, die es nicht durchschaut. Der Hass richtet sich auf das emanzipierte Individuum, dessen Niedergang allerdings in Folge der Dialektik der Aufklärung unaufhaltbar erscheint. Die bittere Erkenntnis dahinter lautet: Das permanente Exil ist fortan die Heimat – sowohl geistig wie physisch.

Die Einsicht trifft auch auf andere zu. Leo Strauss, der oft als Vordenker der Neokonservativen in den USA eingeordnet wird, zieht als erster die praktische Konsequenzen: 1944 nimmt er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an, da er die deutsche Niederlage nicht abwarten will. 20 Jahre nach Kriegsende be­zeich­net er schließlich den Natio­nalsozialismus als »das einzige Regime, das es jemals gegeben hat –, welches kein anderes klares Prinzip besaß als einen mörderischen Hass auf die Juden, denn ›arisch‹ hatte keine andere klare Bedeutung als ›nicht­jüdisch‹«. Das Land der Täter sollte Strauss bis zu seinem Tod im Jahr 1973 nur noch einmal besuchen.

Bei Hannah Arendt manifestiert sich der Zustand des being in between nicht nur in ihrer Biographie, sondern auch in ihrer Theorie. In der »neuen Heimat« entstand laut Söllner häufig keine »einfache« Identität mehr, sondern so etwas wie eine vielfach gebrochene »multiple Identität«. Er sieht darin auch den entscheidenden Impuls für Arendts Werk: »Sie hat sich in der akademischen Welt als essayistische Außenseiterin behauptet und war stolz darauf, sie ist den Wissenschaftlern als Philosophin gegenübergetreten und hat sich von den Fachphilosophen wiederum als »Politiktheo­retikerin« abgegrenzt.«

Die Erfahrung des Exils sorgt dafür, dass die Identität mit einer Welt, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse verdinglicht sind und von den atomisierten Individuen bewusstlos hingenommen werden, nur eine nega­tive sein kann. Der geistigen Produktivität muss das allerdings keinesfalls schaden, was auch im Ka­pitel »›Agenten der Verwestlichung‹? Zur Wirkungsgeschichte deutscher Hitler-Flüchtlinge« deutlich wird. Söllner analysiert die Bedeutung der Emigranten für den Wissenschaftsbetrieb in der Bonner Republik: »Erst nach der Niederlage des Hitlers-­Regimes und der unconditonal surrender im Zweiten Weltkrieg (…) kam es in Westdeutschland sowohl zur Beschleunigung wie zur Vertiefung eines mentalen wie kollektiven Prozesses, als dessen Kern man die ›Verwestlichung‹ des politischen Denkens herauslösen kann.« Diese Verwestlichung und das »Insistieren auf der Autonomie gegenüber den angrenzenden Fächern wie Geschichte, Jurisprudenz und Philosophie« ­waren Voraussetzungen für die Entwicklung der Politikwissenschaft als eigenständigem Universitätsfach.

Für Söllner befinden sich die ­»Political Scholars« in einer »exponierten Situation«. Als Menschen, denen die »Dissidenz zum Lebensschicksal geworden ist, sind sie die politischen Intellektuellen par excellence«. Die Protagonisten seien da­bei aber »weder die Weichensteller der politischen Geschichte noch gar die Demiurgen von weltgeschichtlichen Umbrüchen«. Dennoch ­könne man sie »als Indikatoren, als signifikante Vor- oder auch Nach­bereiter für solche Umbrüche betrachten«.

 

Alfons Söllner: Political Scholar – Zur Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2018, 309 Seiten, 24, 80 Euro