Krauts will be Krauts
Als die britische Musikpresse Mitte der siebziger Jahre begann, den Begriff »Krautrock« als Sammelbezeichnung für alle mögliche Popmusik aus Westdeutschland zu verwenden – vom geradlinigen Politrock von Ton Steine Scherben bis zu den elektronischen Pionierproduktionen von Kraftwerk –, hatte die im weitesten Sinne experimentelle deutsche Popmusik seit 1968, für die der Name schließlich haften blieb, ihre Blüte schon hinter sich. Während der Begriff im Englischen heutzutage von Musikern jeder Provenienz in Anspruch genommen wird, die sich mit einer vage avantgardistischen Aura umgeben wollen, war er anfänglich durchaus als Konsumwarnung gemeint: Rockmusik in der Tradition des Liverpooler Beat wurde als durch und durch englische Domäne verstanden, der deutsche Krieg war im Bewusstsein der britischen Öffentlichkeit noch sehr lebendig und deutsche Konkurrenz auf dem musikalischen Feld so unerwünscht wie auf jedem anderen.
Die meisten Krautrocker sind bis heute unglücklich über das Label, weil es tat, was es tun sollte: die Musik vereinheitlichend auf ihre Herkunft reduzieren. Seinen Ursprung hat es allerdings nicht erst in Großbritannien, sondern als ironische Selbstbezeichnung deutscher Musiker. Amon Düül veröffentlichte bereits 1969 einen Song namens »Mama Düül und ihre Sauerkrautband spielt auf«, 1973 betitelte die Band Faust einen Song schlicht mit »Krautrock«. Darin kam sowohl das Bewusstsein der popkulturellen Rückständigkeit Deutschlands zum Ausdruck als auch das ambivalente Verhältnis der jungen Musikergeneration um 1968 zu ihrer Herkunft, indem das englische Schmähwort sie als deutsch identifizierte und zugleich davon distanzierte.
Krautrock ist von der Spannung beherrscht, ob die angloamerikanischen Klischees negiert werden, weil sie Klischees oder weil sie angloamerikanisch sind.
Musikalisch scheint die Genrebezeichnung wenig aussagekräftig: zu unterschiedlich klingen das psychedelische Gedudel der linksradikalen »Musikkommune« Amon Düül, die minimalistischen Produktionen von Kraftwerk und Neu!, der Free-Jazz-Sound von Guru Guru und die betont avantgardistische Proto-Weltmusik von Can. All die auf den ersten Blick so unterschiedlichen Krautrockbands treffen sich aber in einer gemeinsamen musikalischen Negation: Die globalisierte Popmusikpraxis angloamerikanischen Ursprungs war bis Ende der siebziger Jahre immer wesentlich vom Blues durchdrungen. Krautrock war das erste genuin deutsche Popprodukt mit internationaler Resonanz und die erste Strömung, die gezielt auf alle Topoi des Blues und Rock ’n’ Roll verzichtete: sogenannte »Motorik« statt Backbeat, meditative Klangfelder statt in Strophen gegliederte Lieder, geschichtete Ostinati statt distinkte Harmoniefolgen. Ob diese Klangkorridore nun mit einem Patois aus außereuropäischen Musikstilen und Anleihen bei Avantgarde-Komponisten wie Stockhausen und Cage ausstaffiert wurden wie bei Can oder wie bei Kraftwerk mit einer Art Synth-Pop Concrète, erscheint dieser Abgrenzung von der angloamerikanischen Poptradition als zweitrangig. Der musikfremde Sinn der Verwendung des Begriffs Krautrock in der britischen Presse erfasst in dieser subkutanen Hinsicht dann doch die Einheit auch des musikalischen Phänomens.
Tatsächlich war Rockmusik in den Sechzigern einem nie dagewesenen Prozess der Kapitalkonzentration in der Musikindustrie unterworfen, mit der ein entsprechender Grad von Standardisierung einherging. 1973 konnten die vier größten Musikkapitale mehr als die Hälfte der gesamten Tonträgerumsätze auf sich vereinigen. Zumal in der Bundesrepublik bestand die Alternative zu den Produkten der Schlagerindustrie vor allem in faden Abziehbildern der angelsächsischen Stars wie dem »deutschen Elvis« Peter Kraus oder Beatles-Klonen wie den Rattles. Krautrock ist von Beginn an von der Spannung beherrscht, ob die angloamerikanischen Klischees negiert werden, weil sie Klischees oder weil sie angloamerikanisch sind. Das erstgenannte Moment war für die Geschichte der Popmusik trotz des geringen ökonomischen Erfolgs – Kraftwerk stellt nicht nur in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar – überaus folgenreich; für die Entstehung von Punk und New Wave nicht weniger als etwa für David Bowies Berlin-Trilogie oder Brian Enos erste Ambient-Versuche, und sogar der HipHop-Pionier Afrika Bambaata und der »Godfather of Techno« Juan Atkins geben Krautrock als frühen Einfluss an.
Tief eingelassen ist in diesen aber auch die geistige Konstellation, die so typisch für die deutschen Achtundsechziger war: das Ringen um ein Verhältnis zu Deutschland, das weder an die Elterngeneration anschließen wollte noch sich von ihr emanzipieren konnte und sich im (Weh-)Leiden an der kulturellen Dominanz Amerikas wieder mit ihr zusammenfand. Mit 16 habe er auch Levi’s getragen, erzählt etwa Michael Rother, der Gitarrist von Neu!, in einem Interview, aber das sei ihm schließlich »zu amerikanisch« gewesen, man habe nach etwas »vor der eigenen Tür« gesucht. Ralf Hütter, Mitbegründer von Kraftwerk, bezeichnete Rockmusik gar als »faschistische Kunstform«, der Kraftwerk eine »elektronische Volksmusik« entgegensetze. Unfähig, den zivilisatorischen Kultureinfluss der Westmächte und die Entfremdungserfahrung der durchkapitalisierten Gesellschaft kritisch auseinanderzuhalten, rekurrierten die Krautrocker – im Gleichschritt mit dem größten Teil der Studentenbewegung – schließlich auf einen linken Antiamerikanismus, den sie vom rechten ihrer Eltern und Großeltern nur abgrenzen konnten, indem sie den westlichen Imperialismus als Faschismus identifizierten, mit allen daran anknüpfenden psychologischen Motiven von Schuldabwehr und Verdrängung der Shoah.
Exemplarisch nachvollziehen lässt sich die Verflüchtigung der kreativen Spannung des Krautrock in banalen Antiamerikanismus hier und belangloses Gedudel dort an der Geschichte des Duos Neu! von Gitarrist Michael Rother und Schlagzeuger Klaus Dinger. Neu! erwies sich popgeschichtlich als eine der einflussreichsten deutschen Bands und stand im Mittelpunkt der neuen Wertschätzung des Krautrock, die um die Jahrtausendwende von den USA ausging. Die ersten drei Alben gehören zu den eigenständigsten deutschen Produktionen der Zeit, in denen die Abwehr der angelsächsischen Vorbilder äußerst originelle Resultate zeitigte. Bowies Welthit »Heroes« ist unmittelbar von »Hero« auf »Neu! ’75« inspiriert, Iggy Pop lobte Dingers Schlagzeugspiel explizit als Befreiung »from the tyranny of stupid blues, rock«. Dinger gilt als Erfinder des sogenannten Motorik-Beats, der zum typischen Merkmal des Krautrock werden sollte. Der durchgängige, monotone 4/4-Takt entfaltet seine auszeichnende Wirkung vor allem, wenn er über lange Zeit unverändert durchgehalten wird.
Popularisiert wurde er maßgeblich von Kraftwerks 22 Minuten dauerndem »Autobahn«, quasi dem Musterbeispiel für Krautrock. Er ersetzt die jazz- und rocktypische Betonung der Zählzeiten 2 und 4 durch eine tendenzielle Gleichgewichtung jeder Takteinheit. Diese Absenz rhythmischer Gliederung vermindert die Bedeutung der kleineren Zeiteinheiten und ersetzt das vorantreibende Zeitgefühl des Rock ’n’ Roll durch ein passives Fließen. Dem entspricht der Minimalismus von Rothers Gitarrenstil, der bei der Selbstentthronung der Gitarre als Leitinstrument von allen Krautrockgitarristen am weitesten ging. Der erste und einzige Akkordwechsel auf der A-Seite von »Neu!« geschieht erst im letzten Song.
Das programmatische Stück dieses Stils ist »Hallogallo«: ein raffiniert simples Akzentpattern pausenloser Achtel der Gitarre über Dingers motorischem Beat, gehüllt in eine E-Dur-Wolke aus Hall- und Delay-Effekten, aus der unregelmäßig rückwärts abgespielte Gitarrenschnipsel herausblubbern. Es gibt keine Melodie, keinen Gesang, überhaupt nichts, was sich als eigenständiges Detail aus dem Klangfluss erhöbe. Wenn der Song nach zehn Minuten langsam ausläuft, ist das einer der wenigen Fälle der Popgeschichte, in denen ein Fade-out nicht einfach Symptom der Unfähigkeit ist, einen guten Schluss zu schreiben, sondern musikalisch gerechtfertigt: Es gibt keinen inneren Grund, warum diese Musik nicht ewig weitergehen sollte. Meditativer Nichtigkeit entgeht das Stück durch eine träumerische Klangregie, die mal diese, mal jene Ebene in den Vordergrund rückt und anhaltendes Interesse eher durch konstante Texturveränderung erheischt als durch die Abfolge musikalischer Ideen.
Nachdem sich Neu! 1975 im Streit getrennt hatten, konnten die Solo-Projekte von Rother und Dinger nicht an das vorherige Niveau anknüpfen. Auffällig ist besonders, wie der vage Transnationalismus, den Neu! als Konsequenz aus der Maxime »Weder Deutschland noch Amerika« gezogen hatten, in Provinzialität kippt. Dingers Soloprojekt hieß La Düsseldorf. Er tastet sich dabei ausgehend von Zeilen wie »We are young Germans but different than the others – we fight for our life and our freedom« zu seinem Deutschtum vor, das er in den Achtzigern schließlich auf die griffige Formel »US, SS, SA, America« brachte, auf die von der Phantasie eines amerikanischen »Indianer-Holocaust« bis zu »Heil Ronald« alle bösartigen Klischees folgen, die der deutsche Antiamerikanismus in petto hat.
Rother zog sich derweil auf ein abgeschiedenes Landhaus im niedersächsischen Forst zurück. Seine ersten Soloalben »Flammende Herzen«, »Sterntaler«, »Katzenmusik« und »«, die das Label Grönland im Februar als Teil einer Werkschau wiederveröffentlicht, verhalfen ihm zwar ökonomisch zum Durchbruch, blieben aber weit hinter der kreativen Vielfalt von Neu! zurück. Eine einzige Songidee beherrscht alle vier in dem Boxset enthaltenen Alben: längst selbst zum Klischee gewordene monotone Drums und kitschige Farfisa-Synths, über die Gitarrenmelodien hinwegplätschern, die erschreckend nichtssagend sind. Die frühe Blues-Scheu ist zu einer hygienischen Diatonik gesteigert, als habe einer die schwarzen Tasten aus dem Klavier gebrochen. Zwar ersparen die Instrumentalstücke einem eventuelle politische Ansichten Rothers, der pastorale Sound aber, den die Alben ununterbrochen suchen, ist so akribisch von jeder Negativität gereinigt, dass sie nach genau dem Heimatidyll klingen, dessen Zersetzung Dingers Tiraden den USA vorwerfen.
Michael Rother: Solo (Grönland)