Imprint - Abdruck aus: »Schwule Emanzipation und ihre Konflikte. Zur westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre. «

Der Tuntenstreit

1973 entbrannte in der Westberliner Schwulenszene ein Streit um Begehren, Normalität und Politik. Ob Selbsterfahrung dem Klassenkampf, schwule Emanzipation dem Sozialismus und selbstbewusstes Anderssein der Normalität vorzuziehen seien, waren dabei, grob gesagt, die Streitfragen. Den Verlauf des sogenannten Tuntenstreits hat Patrick Henze, besser bekannt als Patsy l’Amour LaLove, mit Hilfe von Interviews mit Beteiligten sowie Archivmaterial rekonstruiert.
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Pfingsten 1973
Nachdem sich die Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW), eine vor allem aus sozialistischen Studenten bestehende Organisation, im August 1971 gegründet hatte, organisierte sie ein erstes überregional angelegtes Pfingsttreffen vom 19. bis 22. Mai 1972. Dort wurde der Praunheim-Film »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt« gezeigt und über den Unterschied zwischen Aktionsgruppen und Gay-Liberation-Organisationen diskutiert. Im Nachgang wurde die linke Zeitschrift Konkret ebenso angeschrieben wie die Schwulenmagazine Him und Du & Ich kontaktiert wurden, mit jeweils vorgefertigten Artikeln. Unter dem Titel »Schwule organisieren sich überregional – Pfingsttreffen progressiver Homosexuellengruppen in Berlin« sollte in der Konkret veröffentlicht werden, dass »man die Unterdrückung der Schwulen endlich als gesellschaftspolitisches Problem begreifen muss«. Die Schwulen würden »erst durch die Verbesserung der Beziehungen untereinander zur politischen Arbeit ­fähig«. In einem beigefügten, vom HAW-Mitglied Bernd Gaiser unterzeichneten Anschreiben an die Konkret-Redaktion heißt es »in der Erwartung auch von der Konkret unterstützt zu werden«: »Wir glauben, dass diese neue Form des Auftretens von Homosexuellen, nämlich orga­nisiert und mit der Absicht im gesellschaftsverändernden Sinne wirksam zu werden, auch die Aufmerksamkeit und Unterstützung einer Öffentlichkeit erfordert wie sie z.B. die Leser von Konkret ausmacht.« Vor dem linken Publikum der Konkret sollte die progressive Organisierung der Homo­sexuellen betont werden.

Kurz nach Pfingsten 1972 wurde beschlossen, auch 1973 ein Treffen zu organisieren, zu dem noch mehr schwule Aktionsgruppen eingeladen werden sollten. Die 61 Gruppen, die sich zwischen 1971 und 1973 gegründet hatten, zeigten im Vorfeld größtenteils Interesse an der Einladung nach Westberlin. Darüber hinaus wurden Aktivisten aus der niederländischen Nederlandse Vereniging voor Integratie van Homoseksualiteit COC, der italienischen Fuori! und der französischen Front homosexuel d’action révolutionnaire (FHAR) eingeladen. Die HAW-Arbeitsgruppen diskutierten im Frühjahr 1973 über mögliche Programmpunkte des Pfingst­wochenendes: Etwa »Happenings vor Boutiquen«, man wollte »Werbeflächen umfunktionieren, sodass die Manipulation von Bedürfnissen deutlich wird«. Die HAW-Vollversammlung schlug Themenbereiche vor, die von den Arbeitsgruppen präsentiert und mit den Besuchern des Pfingsttreffens diskutiert werden sollten: »Minderwertigkeitskomplex, Homosexualität und Familie, Toleranz und Solidarität, Verführung, Sexua­lität im Film, Prostitution, Sexualität und Konsum«. Innerhalb der HAW bereiteten sich einige Schwestern mit einem »Trainingsprogramm« auf die öffentlichen Aktionen und mögliche Schwulenfeindlichkeit der ­Bevölkerung vor. Die Kontaktgruppe wiederum, eine Selbsterfahrungsgruppe, übte bereits während der Vorbereitungen Kritik an geplanten ­Politaktionen, die im Tuntenstreit vehement formuliert werden sollte. Ihre eigenen Vorstellungen formulierte sie als Gegenentwurf: »wir wollen eine aktion machen, die uns spaß macht. deshalb: keine der üblichen demonstrationen mit parolen, die forderungen signalisieren. Sondern: ein umzug mit musik, ansagen, musikinstrumenten, blumen, parolen, die bürgerliche vorstellungen aufs korn nehmen. SCHWULSEIN MACHT SPASS!«

 

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