Pop und Plastik
Plastik sei die erste »magische Materie, die zur Alltäglichkeit bereit ist«, schrieb Roland Barthes in den Fünfzigern über das damals noch neue Material. Doch es habe sein Potential noch nicht voll ausgeschöpft, fährt er in seinen »Mythen des Alltags« fort, noch komme es zu kurz, »verloren zwischen der Dehnbarkeit des Gummis und der flachen Härte des Metalls«. Mit einer solchen Euphorie würde heutzutage wohl niemand mehr der »magischen Materie« begegnen, ihre Nebenwirkungen haben sich vor den utopischen Gehalt gedrängt, über den Plastik in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch verfügte. Denn was tun mit all dem Plastikmüll, der sich auftürmt und sich einfach nicht zersetzen will?
Frank Zappa hat 1967 die »Plastic People« in die Popmusik eingeführt: identitätslose, kulturindustriell abgerichtete Konformisten.
Als Musiker ist man Teil dieser Problematik, denn was passiert mit den Milliarden an Tonträgern, die seit den ersten Schellackplatten gepresst wurden und von denen die meisten als Plastikschrott enden, den niemand mehr hören möchte? Das Elektronik-Duo Matmos aus Baltimore hat sich zu seinem 25jährigen Bestehen mit dieser Frage beschäftigt und mit dem Album »Plastic Anniversary« auch ganz konkrete Strategien zum Umgang mit dem Vinylmüll vorgelegt: Matmos erschaffen neue Kunst daraus. Nicht nur ist die Vinylpressung des kürzlich erschienenen Albums aus recyceltem Material hergestellt, auch anderweitig wird auf dem Album wiederverwertet: Gleich der erste Song »Breaking Bread« besteht nur aus Geräuschen, die beim Zerbrechen von LPs und Singles der Siebziger-Softrockband Bread entstanden sind. Immerhin als Sound für neue Musik eignet sich der musikalische Plastikschrott noch. Und so sind sämtliche Tracks auf dem elften Album von Matmos aus Klängen gemacht, deren Ursprung Plastik in all seinen Ausformungen ist: von Billardkugeln über synthetisches Fett, Salatschüsseln, Klobürsten und Plastikinstrumenten bis hin zu einem Polizeischild aus Polycarbonat. Diese Überführung eines von Kunststoff bestimmten Alltags in synthetische Musik hat ein Konzeptalbum ergeben, bei dem Form und Inhalt miteinander spielen, sich hektisch voneinander entfernen und wieder zusammenfinden und dabei so vielseitig und ambivalent bleiben wie das Material selbst. Es ist eine Musik, die dabei auf mysteriöse Weise organischer klingt als viele vorherige Alben des Duos.
Sich als Musiker über den Bezug auf Kunststoffe auch mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen, hat eine lange Tradition. Angefangen hat damit spätestens Frank Zappa, als er 1967 die »Plastic People« in die Musik eingeführt hat. Damit bezeichnete er Konformisten, die leer und unreflektiert alles schlucken, was man ihnen vorsetzt. Woran es den Menschen in ihrer Künstlichkeit mangele, so Zappa, seien Wurzeln, auf die sie sich beziehen können, und die Liebe: »I’m sure that love will never be/A product of plasticity«, heißt es am Ende des Songs. Die von Zappa vorgebrachte Kritik am abgestumpften, anonymen, identitätslosen, ferngesteuerten und kulturindustriell abgerichteten Menschen, die sich im Bild des Plastiks bündelte, hat sich in den Folgejahren ebenso schnell verbreitet wie ein Jahrzehnt zuvor die Tupperware.
Unzählige Bands und Künstler haben die »Plastic People« besungen, ihre synthetischen Plastikleben, in denen einzig die Werbung die Befriedigung ihrer Plastikbedürfnisse vorspiegelt. Auch im Punk, ein Jahrzehnt später, war es das Plastik, mit dessen Hilfe eine Kritik an der Gesellschaft formuliert wurde. Plastik blieb auch hier ein Bild für die Abgründe des Kapitalismus – allerdings nicht die »Plastic People«, sondern das Material selbst trat in den Mittelpunkt, als Plastiktüten, PVC oder Plastikeimer. »Could this be the plastic age?«, fragten sich auch The Buggles 1980, dabei war das Plastikzeitalter da schon wieder auf dem absteigenden Ast. »Jute statt Plastik«, hieß es seit den späten Siebzigern, nach der Ölkrise 1973 und nachdem die Gefahren von Kunststoffen für die Umwelt immer stärker in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit gedrungen waren. Eine Entwicklung, die auch im Pop in den nächsten Jahrzehnten immer stärker spürbar wurde. »Stop plastic pollution / In the ocean/ Save the fish / Keep your planet clean«, so formulierte Ex-Kraftwerker Florian Schneider das Problem 2015 in dem Song »Stop Plastic Pollution«, zwei Jahre später ergänzt von Surfer-Songwriter Jack Johnson, der im Song »Fragments« erklärte: »Fragments on the sea /Birds of prey above / All that lies beneath / No longer what it was, it changed«. Die Gorillaz um Damon Albarn haben dem Thema 2010 mit »Plastic Beach« sogar ein ganzes Album gewidmet.
Plastik als Versprechen, als Metapher für die Schönheit des Künstlichen und des Spiels mit Identitäten.
Matmos schließen sich dieser eindeutigen Stoßrichtung mit ihrem neuen Album nicht an, auch wenn das Backcover einen an Plastik verendeten Albatros zeigt. Die Vorderseite jedoch huldigt dem Versprechen, das im Plastik wie auch im Pop immer schon verborgen war: das Versprechen von Künstlichkeit, eines Spiels mit Zitaten und Vorgefundenem, die Utopie, sich eine neue Identität zu formen.
Dass dem Pop das Plastik als Metapher für die Schönheit des Künstlichen und des Spiels mit Identitäten, als eine Suche nach dem Authentischen und Echten im Laufe der Jahrzehnte verloren gegangen ist, haben Künstler immer wieder thematisiert, ohne dabei die realen Gefahren des realen Plastiks für die Umwelt kleinzureden. Björk etwa besang 1989 mit den Sugarcubes die Schönheit von Plastik und bat im Song »Dear Plastic« den Kunststoff, sich nicht verbiegen zu lassen: »Plastic/Nylon/Dear plastic/Be proud/Don’t imitate anything/You’re pure, pure, pure«. Statt auf eine Verklärung der Natürlichkeit setzt Pop auf Reflexion und Künstlichkeit – und auf Plastik. Am deutlichsten hat diese Position wohl Lady Gaga 2008 in ihrem Song »Paparazzi« zusammengefasst. Genervt erklärt sie dort: »We’re plastic/But we still have fun«.
Ein Motto, das auch »Plastic Anniversary« Pate gestanden haben könnte. Denn Spaß hatten M. C. Schmidt und Drew Daniel von Matmos bei der Konzeption ihres Albums offensichtlich, geradezu ausgelassen spielen Tracks wie »Collapse of the Fourth Kingdom« die Möglichkeiten durch, Musique concrète tanzbar zu machen. Aus Lego- und Dominosteinen, Plastikhandschuhen und einem ganzen Orchester an Plastikblasinstrumenten fabrizieren sie den Soundtrack zum Kollaps des Plastikzeitalters, während Deerhoof-Drummer Greg Saunier Plastikflaschen und Eimer zusammendrischt. Im Finale bleibt nur noch das Rauschen und Fiepen von Mikroorganismen, die sich in der »Plastisphäre« angesiedelt haben.
Doch trotz solcher apokalyptischen Zwischentöne bleibt »Plastic Anniversary« vor allem ein Album, das Plastik in all seinen Ausformungen ein Denkmal setzen will. Es wirkt in seiner Weigerung, dem Zeitgeist entgegenzukommen oder sich trotzig an das einstige Versprechen von Plastik zu klammern, seltsam aus der Welt gefallen. Ein hauntologischer Plastikraum, dem die Trauer darüber anzumerken ist, dass heutzutage das Material vor allem negativ konnotiert ist, das einst eine Verheißung der Zukunft dargestellt hat, etwas Neues, Unbekanntes, die Utopie, jeden Artikel des täglichen Lebens, vom Löffel bis zum Haus, aus künstlichen Materialien herstellen zu können. Gleichzeitig ist »Plastic Anniversary« ein Dokument der Allgegenwart von Plastik, das von jedem Ton des Albums Besitz ergriffen hat, einer Präsenz, die manchmal auf die Nerven geht, die wir aber meist gar nicht mehr wahrzunehmen gewohnt sind – ein Aspekt, den die Tracks ebenfalls spiegeln, denn zu erkennen geben sich die Quellen nur in Subtexten, wenn etwa die Geräusche zusammenprallender Billardkugeln einen Moment des Wiedererkennens ermöglichen, bevor die Komposition durch gesampelte Sounds von synthetischem Fett überlagert wird. M. C. Schmidt und Drew Daniel haben sich zu ihrem 25. Jahrestag als Musiker und als Liebespaar ein Album komponiert, das ein Versprechen einer Zukunft entwirft, in dem die Ambivalenz, die in einem solchen Versprechen liegt, stets mitschwingt.
Matmos: Plastic Anniversary (Thrill Jockey)