Spiel mir das Stück von der Versöhnung

Milo Rau führt die Orestie in Mossul und am Nationaltheater Gent auf. Ein Plädoyer für einen Friedensschluss, das Fragen aufwirft.

Mitten in der Millionenmetropole Mossul im Nordirak liegt die al-Nuri-Moschee. Mit ihrer hellgrünen ­Kuppel hebt sie sich vor umliegenden Trümmerlandschaft ab. Im Juni 2014 hatte Abu Bakr al-Baghdadi auf der Kanzel der Moschee sein Kalifat ausgerufen. Der »Islamische Staat« (IS) hatte die Stadt innerhalb kürzester Zeit übernommen, auch weil er sich auf breite Unterstützung ver­lassen konnte. Noch heute gilt die mehrheitlich sunnitische Stadt als eine Hochburg des IS. Vor knapp zwei Jahren war Mossul von dessen Herrschaft nach monatelangen Kampf militärisch befreit worden, ein schwieriges Unterfangen, weil sich der IS in der verwinkelten Altstadt verschanzte. Die alliierten Truppen bombardierten das Zentrum, um die Jihadisten zu vertreiben. Zugleich zogen sie einen Ring um die Stadt und rückten Haus für Haus vor. Was nicht von den Bomben zerstört wurde, steckte der IS in Bran, so auch die al-Nuri-Moschee. Nach der Befreiung soll auf der Kuppel kurze Zeit der Schriftzug »Fuck ISIS!« zu lesen gewesen sein. Inzwischen ist die Moschee aus Sicherheitsgründen von ­einem hohen Zaun umgeben, weil das Gelände vom IS vermint wurde. ­Untergetauchte IS-Kämpfer und Kollaborateure werden in der Stadt ­gesucht, ihre Familien befragt und inhaftiert, Todesurteile werden in Schnellverfahren gefällt und vollstreckt. Immer wieder kommt es zu Anschlägen. Der IS ist noch lange nicht endgültig besiegt, er ist zunächst nur dort, wo er vor 2014 war – im Untergrund.

Die Frage, der das Stück ausweicht, lautet, was zunächst bekämpft werden müsste, bevor die Gewalt ein Ende finden könnte.

Der Schweizer Theaterregisseur und Autor Milo Rau hat in Mossul die Orestie aufgeführt. Rau leitet seit vergangenem Herbst das Theater im flämischen Gent. Schauspieler des Genter Ensembles und Darsteller aus Mossul spielten Ende März in ­einem Kulturcafé in der zerstörten nordirakischen Stadt die antike Tra­gödientrilogie von Aischylos. In Gent wurde Mitte April eine Fassung gezeigt, die Filmaufnahmen von der Aufführung in Mossul einspielt. Diese Fassung geht auf Tour und wird im Mai am Schauspielhaus Bochum zu sehen sein. Die Orestie besteht aus drei Tragödien, in denen es um Krieg, Mord, Totschlag, Rache und Ge­rechtigkeit geht. Der griechische Heerführer Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie, um die Unterstützung der Götter im Krieg gegen Troja zu gewinnen.

Als er nach Jahren zu seiner Frau Klytaimnestra zurückkehrt, wird er von ihr und ihrem Liebhaber Aigisthos ermordet. Der Sohn von Agamemnon und Klytaimnestra, Orestes erschlägt daraufhin – unterstützt von seiner Schwester Elektra, die wie eine Gefangene im Palast ­leben musste – seine Mutter und Aigis­thos. Verfolgt von den Erinyen, den Rachegöttinen, sucht er Zuflucht im Tempel der Athene, die einen Prozess ansetzt, in dem die ­Erinyen als Anklägerinnen fungieren. Soll der Muttermord mit dem Tod bestraft werden? Mit der entscheidenden Stimme der Göttin der Weisheit wird Orestes freigesprochen, das Recht tritt an die Stelle der Blutrache. Die Erinyen verwandeln sich in die Eumeniden, die Wohlgesinnten.

Das Talionsgebot ist eines der ältesten Rechtsprinzipien der Menschheit. Auge für Auge, lautet es in Kürze, ein Unrecht wird durch das Äquivalent vergolten. Doch so alt das Prinzip ist, so alt ist auch die Kritik daran, kann es doch in eine unendliche Folge von Racheakten führen und einen traumatischen Wiederholungszwang begründen. Um den Rechtsfrieden zu sichern und Gewalt zu unterbinden, wurden nichtäquivalente Strafen etabliert. Doch wie geht man um mit schwerster Gewalttat und unvorstellbaren Verbrechen, ohne die Mörder gewähren oder ihr Treiben ungesühnt zu lassen? Walter Benjamin schrieb einst, dass die Anwendung der Todesstrafe durchaus gerechtfertigt sein könne, niemals aber ihre Legitimierung – eine nicht mehr im Recht begründbare Ausnahme von demselben, die sich nach der Schwere der Untat richtet.

An der Brutalität der Verbrechen des IS lässt Raus Inszenierung kein Zweifel. Ein Schauspieler erzählt, dass er zur Vorbereitung von einem Journalisten eine Festplatte voll mit Videoaufnahmen von Hinrichtungen bekommen habe. Und ein Fotograf aus Mossul berichtet, wie er mit einem starken Teleobjektiv die Exekutionen der IS dokumentiert hat. In einer Szene sieht man die Darsteller auf dem Dach eines ehemaligen Supermarkts stehen, von dem Schwule und Frauen in den Tod gestürzt wurden. Jeder der irakischen Darsteller hat ­einen Angehörigen, Freund oder Bekannten durch die Gewalt im Irak verloren.

Auf der Bühne wird die Gewalt nachgestellt. Iphigenie wird minutenlang erwürgt, Klytaimnestra per ­Genickschuss umgebracht. Rau greift auf eine Inszenierungstechnik zurück, wie er sie in seiner Europa-Trilogie schon verwendet hatte, in deren Rahmen er 2016 mit dem Stück »Empire« erstmals in den Norden des Iraks reiste: Auf der Bühne wird eine Umgebung nachgebaut, hier mit Straßenlampe, Bungalow, Müll- und Trümmerhaufen, Blumenladen. ­Daneben befinden sich Requisiten, Kleiderständer mit Kostümen zum Umkleiden und ein Elektropiano, auf dem der Popsong »Mad World« von Tears for Fears gespielt wird. Darüber hängt eine große Leinwand, auf der Filmeinspielungen aus dem zerstörten Mossul, aber auch per Kamera übertragene Szenen von der Bühne zu sehen sind. Es ist, als würde man dem Entstehen eines Films zuschauen. Die Schauspieler spielen nicht nur ihre Rolle, sondern agieren zugleich auf einer Kommentarebene, auf der die Biographien der Darsteller ein­bezogen werden. Das alles betont den Charakter des Gemachten, des Gespielten, ohne dass dadurch der Inhalt des Gezeigten gemildert oder unernst gemacht werden würde. Die Inszenierung strebt auf den Moment zu, in dem die irakischen Darsteller abstimmen sollen, ob die IS-Kämpfer mit dem Tod bestraft werden sollen. Auf der Aufnahme hebt niemand die Hand. Soll ihnen verziehen werden? Auch hier regt sich niemand. Interessant ist dabei, dass sich zu Beginn der Proben alle noch für die Todesstrafe ausgesprochen haben, wie Rau berichtete, vor allem wegen des mangelnden Vertrauens in die irakischen Gerichte.

»Orest in Mossul« muss man als Plädoyer zur Versöhnung auffassen. Das ist einerseits plausibel als eine Erinnerung an die mühsame Arbeit der Zivilisierung der Menschheit im Verzicht auf Gewalt, die überhaupt zu einem Begriff des Rechts statt der Blutrache geführt hat. Es ist aber andererseits gerade dann nicht plausibel, wenn man den Ruf nach Versöhnung nicht bloß abstrakt begreift, sondern nach den Bedingungen fragt. Und diese Frage bleibt in dem Stück doch merkwürdig abwesend. Zwar wird auf die Ölreichtum der Gegend um Mossul verwiesen, der ­Anlass bewaffneter Konflikte ist, oder auch auf die verheerenden Auswirkungen der von den USA geführten Kriege gegen den Irak. Das Aufkommen des IS ist damit aber nicht hinreichend erklärt. Und ebenso wird nicht hinreichend deutlich, was im Irak oder im größeren Zusammenhang geschehen müsste, damit eine tatsächliche Befriedung gelingen könnte. Die Frage, der das Stück ausweicht, lautet, was zunächst bekämpft werden müsste, bevor die Gewalt ein Ende finden könnte. Auch wird das europäische Publikum mit der möglicherweise folgenreichen Frage, wie man es denn außerhalb der Theaterbühne mit der Solidarität mit den Opfern des Islamismus hält, nicht konfrontiert. Und auch nicht, wie man wohl zu der gemeinsamen Offensive von türkischer Armee und islamistischen Milizen in den kurdischen Gebieten steht.

Das Thema von Raus Theaterstücken ist die Gewalt, mit der er sich geradezu obsessiv beschäftigt – von »Hate Radio« (2012) über den Völkermord in Ruanda bis »Die Wiederholung« (2018) über den Mord an einem jungen Schwulen im belgischen Liège. Dagegen spricht in einer außerordentlich gewaltvollen Welt wirklich wenig. Doch bekommt die Gewalt, wenn sie aus ihrem sozialen Zusammenhang gerissen wird, selbst den Anschein einer Naturkonstante. »Orest in Mossul« hat etwas davon: Wo einst Ninive stand, befindet sich nun Mossul, eine 7 000 Jahre alte Siedlung, die schon zahlreiche Kriege überstanden hat. »Die Orestie« ist fast 2 500 Jahre alt und der Jihad auch schon ein paar Jahrhunderte. Wohin man schaut, nur Gewalt. Ein Ende wäre wohl nur durch eine bewusste politische Veränderung zu erreichen. Es entsteht aber ein eigentümliches Missverhältnis, wenn das Anliegen derart abstrakt geäußert wird, dass es sich zwar allgemeiner Zustimmung sicher sein kann, aber zugleich unverbunden bleibt mit dem Vorhaben der Emanzipation.

So beschleicht einen angesichts stehender Ovationen am Ende doch der Verdacht, dass der Applaus allzu gefällig daherkommt, kann man sich doch versichern, dass dank des Theaters die jungen Iraker in Mossul nun die moralische Botschaft der Gewaltfreiheit verstanden haben. Aber begegnet man so dem Zulauf der Jihadisten weltweit? Irgendwie bleibt man trotz der aufrichtigen Botschaft ratlos zurück.

»Orest in Mossul« von Milo Rau hatte am 17. April Premiere und ist bis zum 7. Mai am Nationaltheater Gent (Belgien) und vom 17. bis zum 30. Mai am Schauspielhaus Bochum zu sehen.