Über das Marxsche Eigentumsverständnis

Der alte Schlawiner

In der Debatte über Enteignung steht das Privateigentum plötzlich wieder in Frage. Was hätte Marx dazu eigentlich gesagt?

Alle reden von Enteignung – aber niemand von Eigentum. Dabei ist das eine ohne das andere gar nicht möglich, denn Enteignung setzt Eigentum voraus. Aber was ist das, Eigentum? Worüber reden wir eigentlich? Es ist, fragt man den Alltagsverstand: mein Fahrrad, mein Schrank, mein Smartphone. All das, was mir gehört und mit dem ich machen kann, was ich will. Vor allem meint »meins« zugleich immer auch: »nicht deins«. Ähnlich, aber etwas elaborierter formuliert es das Bürgerliche Gesetzbuch, Artikel 903: »Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.«

Dagegen ist im Grunde nichts einzuwenden. Meine Zahnbürste teile ich ungern. Da ist es gut, wenn ich das Recht habe, anderen zu sagen, sie dürfen sie nicht benutzen. Das ist die Freiheit, die Privateigentum meint: mit »seiner« Sache nach Belieben verfahren zu können. Aber auch das Bürgerliche Gesetzbuch, kein Werk sozialistischer Umstürzler, kennt Einschränkungen dieser Freiheit: »soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen«. Und auch das ist beruhigend. Wenn mein Nachbar zufällig Eigentümer einer Chemiefabrik ist, ist es gut, dass ich ihn daran hindern kann, giftige Chemi­kalien direkt neben meinem Tomatenbeet zu lagern.

Kapitalismus, »der alte Schlawiner«, beruht historisch auf Vertreibung, Gewalt und Enteignung.

Privateigentum scheint, so gesehen, eine vernünftige Angelegenheit zu sein. Allerdings ist das noch längst nicht die ganze Antwort auf die Frage, was Eigentum ist. Man muss nicht Marx gelesen haben, um zu erkennen, dass sich Privateigentum nicht in der Verfügungsgewalt einer Person über eine ­Sache erschöpft. Es ist vielmehr eine Beziehung zwischen Personen bezüglich einer Sache. Eigentum gibt Menschen Macht, andere vom Zugang zu elementaren Ressourcen auszuschließen, seien es gesunde Nahrungsmittel, Behausung, Mobilität oder eine intakte Umwelt. Es geht nicht um die Zahnbürste, es geht um alles.

Marx zufolge ist Privateigentum die Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise und hat erst mit dieser die Form angenommen, die wir heute kennen. Was gerne vergessen wird: Die Enteignung von Bauern und Bäuerinnen vor ein paar hundert Jahren war eine der Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus. Kapitalismus, »der alte Schlawiner« (Peter Licht), beruht historisch fest auf Vertreibung, Gewalt und Enteignung.

Es sind nicht so sehr die Güter des persönlichen Gebrauchs kennzeichnend für das, was kapitalistisches Privateigentum ausmacht. Es sind vielmehr Güter wie Maschinen, Werkzeuge, Natur oder Industrie – in der Sprache der ­politischen Ökonomie: Produktionsmittel. Wer über diese verfügt, entscheidet, was produziert wird und wie es produziert wird, ob und wann produziert wird, wie viel davon und mit welchem Ziel. Eigentümer von Produktionsmitteln müssen Arbeitskraft einkaufen, sie lassen andere für sich mit ihren Produktionsmitteln arbeiten. Wer keine Produktionsmittel hat, kann niemanden für sich arbeiten lassen und muss seine Arbeitskraft verkaufen, um zu überleben. Man kann eine Zahnbürste, ein Fahrrad, Kleider, einen Schrank und andere Dinge zum Eigentum haben, doch da dies keine Produktionsmittel sind, kann man von diesem Eigentum auf Dauer nicht leben. Das Verhältnis zwischen Eigentümern und Nichteigentümern von Produktionsmitteln beim Kauf und Verkauf von Arbeitskraft ist asymmetrisch. Sie stehen sich zwar formal als Vertragspartner juristisch gleich gegenüber, aber ökonomisch sind sie es nicht, die Letzteren sind erpressbar, sie haben weniger Macht. Es sei denn, sie tun sich zusammen. Das ist im Kern das, was nach Marx Klassen im Kapitalismus ausmacht.

Verkauft wird wohlgemerkt gar nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft. Ähnlich wie beim Mieten eines Pferdes bezahlt der Käufer von Arbeitskraft, der Kapitalist bzw. der »Arbeitgeber«, zwar die Nutzungsdauer. Wie das Pferd aber geritten wird, ist in Belieben des Mieters gestellt. Der eine holt viel raus, der andere wenig, und mancher reitet das Pferd zuschanden. Der Eigentümer von Produktionsmitteln kann den Nichteigentümer in acht Stunden Arbeit am Tag fünf Autos produzieren lassen, muss ihm dafür aber nur einen Bruchteil von deren Wert als Gehalt bezahlen. Marx nennt das Ausbeutung. So kommt es, dass die Arbeiter von BMW zwar massenweise Autos herstellen, es aber immer mehr sein werden, als sie selbst insgesamt je kaufen könnten.

Eigentum ist ein ziemlich komplexes soziales Verhältnis, nicht einfach »mein Fahrrad« oder »mein Immobilienkonzern«.

Die Eigentümer der Fabriken haben allerdings nicht das Ziel, Autos zu horten und immer reicher zu werden. Das Eigentum an Produktionsmitteln dient nur auf den ersten Blick ausschließlich der Vermehrung des Reichtums ihrer Eigentümer. Auf den zweiten Blick zwingt die Konkurrenz des Marktes die Unternehmer und Unternehmerinnen lokal und global dazu, ständig besser, billiger und schneller zu sein als ihre Konkurrenten, bei Strafe ihres Untergangs: Kapital vorschießen, produzieren, Produziertes verkaufen, mehr Geld erhalten, als vorher reingesteckt wurde, erneut Kapital vorschießen und immer so weiter. Die Quelle des Reichtums muss gehegt und ­gepflegt werden, sonst versiegt sie. G-W-G’ heißt das bei Marx: Geld – Ware – mehr Geld. Es ist ein Hamsterrad, das keinen Maßstab kennt. Dabei fällt dann – wenn’s gut läuft – eine Menge Reichtum für die ab, denen die Produktionsmittel gehören. Eine Art Kollateralnutzen, der schon mal, wie derzeit bei den BMW-Großaktionären Susanne Klatten und Stefan Quandt, drei Millionen Euro Dividende bringen kann – pro Tag.

Das ist der Wachstumszwang, den viele angesichts des Klimawandels ­kritisieren, ohne die Kraft zu benennen, die ihn antreibt. Eigentum oder Privateigentum, was zumeist synonym verwendet wird, mag als Begriff möglicherweise überstrapaziert sein, wenn damit im Grunde gleich der ganze Kapitalismus erklärt wird. In dieser Lesart kommt Privateigentum jedoch eine vielschichtige Rolle zu: Es fällt auseinander in die juristische Form und ihren ökonomischen Inhalt. Die juristische Form ist die Voraussetzung für die Verfügungsgewalt, die wie beschrieben eingesetzt wird: für G-W-G’. Sie ist aber nur die notwendige, nicht die hinreichende Bedingung. Damit ein Unternehmen produzieren kann, um Profit zu maximieren, braucht es das Eigentum an Produktionsmitteln. Aber nur weil es Privateigentum an Produktionsmitteln hat, muss es noch lange nicht profitmaximierend produzieren, dazu zwingt es die Konkurrenz. Das bedeutet im Umkehrschluss: Auch ein Staat kann privatwirtschaftlich geführte Unternehmen besitzen.

Staatseigentum kann eingesetzt werden wie Privateigentum. Bei der juristischen Form muss man darüber hinaus differenzieren zwischen Besitz (Mietwohnung) und Eigentum und bei diesem zwischen persönlichem Eigentum (Zahnbürste) und eben dem Eigentum an Produktionsmitteln.

Eigentum ist also ein ziemlich komplexes soziales Verhältnis, nicht einfach »mein Fahrrad« oder »mein Immobilienkonzern«. Es ist daher kein ­Wunder, dass Enteignung gegenwärtig zu den irreführendsten Begriffen der öffentlichen Debatte gehört und emotional hoch aufgeladen ist. Wer will schon, dass ihm etwas weggenommen wird? Konfrontiert mit allen möglichen Zuschreibungen und Abwertungen löst, wer Enteignung ins Spiel bringt, Abwehrreflexe bei jenen aus, die um die Freiheit des Eigentums fürchten. Aber, und das ist nicht zu unterschätzen, die Debatte gibt Raum frei, um das bislang wie in Stein gemeißelte Lob des Privateigentums und damit des Marktes in Frage zu stellen. Das ist bitter nötig, um über die allzu enge Zweiweltensicht von Markt versus Staat hinauszukommen.

Die Debatte über Enteignung müsste über das Personalisieren hinausgehen, sollte sich also nicht so sehr auf die juristischen Personen oder Unternehmungen konzentrieren, die da enteignet werden sollen, oder auf die einzelnen ­Betriebe, die da kollektiviert werden sollen, um dann, O-Ton Kevin Kühnert, die »Profite« anders zu verteilen. Profite?

Wem die Produktionsmittel gehören, ist im Grunde zweitrangig. Entscheidend ist, zu welchem Zweck sie eingesetzt werden: für Profite oder für das Bedürfnis? Das aber ist keine Frage, die einzelne Produktionsmitteleigentümer nach ihrem Gusto beantworten könnten, sie sind zu sehr in ihrem ­bornierten Interesse befangen. Es ist eine gesellschaftliche Frage. So steht es auch im Grundgesetz: Eigentum verpflichtet. Das gilt auch für Produktionsmittel.

Karl Marx übrigens wollte nicht das Privateigentum aufheben, um zu staatlichem Eigentum überzuwechseln. Vielmehr feierte er an der Pariser Kommune genau das Gegenteil, nämlich dass sie die Enteignung der Enteigner beabsichtige, weil sie das »individuelle Eigentum zu einer Wahrheit machen« wollte.