Bahn frei für E-Scooter

Lautlos, schnell und tödlich

Elektroroller: Eine umweltschonende Alternative zum Auto oder einfach nur ein nerviger Hype?

»Verpisst Euch!« brüllt eine schwangere Frau, die auf dem Radweg an der viel befahrenen Ibn-Gvirol-Straße im Zentrum von Tel Aviv telefonierend und in hohem Tempo entgegen der Fahrrichtung unterwegs ist. Fußgängern und Radfahrern bleibt nur zur Seite auszuweichen, während die Frau mit ihrem E-Scooter an allen wild fluchend und gestikulierend vorbeirauscht. Überall in der Stadt sieht man Tretroller mit Elektromotor, deren Fahrer den knappen öffentlichen Raum nicht selten in eine Kampfzone verwandeln. Ihre Nutzer verstehen sich als besonders leichtfüßige Konkurrenz aller anderen Verkehrsteilnehmer und ignorieren so ziemlich jede Verkehrsregel.

E-Scooter bereiten Unfallforschern Sorgen. Die sehr kleinen Räder der Elektroroller scheitern schnell an Hindernissen, die für Fahr­räder überhaupt keine Gefahr darstellen.

Im technikverliebten Israel sind die wendigen Elektroroller schon länger ein Hit. Allein im vergangenen Jahr wurden 25 000 davon verkauft, doppelt so viele wie 2017. Neu aber ist die Verknüpfung mit Sharing-Diensten. Nach dem Vorbild von Leihfahrrädern sind die Roller mittels diverser Apps überall zu mieten, so dass die Zahl der Nutzer sprunghaft in die Höhe geschossen ist. Den Anfang machte im August 2018 Bird Rides Inc. aus Los Angeles, es folgten Wind, ein Angebot der Berliner BYKE Mobility GmbH, sowie Lime von Neutron Holdings Inc. aus San Francisco. Und mit der Popularität steigen auch die Unfallzahlen. 2018 kamen in Israel 19 Fahrerinnen und Fahrer von E-Scootern und Elektrofahrrädern – die Statistik unterscheidet nicht zwischen beiden Fortbewegungsmitteln – zu Tode, 2017 waren es noch sieben.

E-Scooter bereiten den Unfallforschern Sorgen. Ihre Nutzer sind stehend unterwegs und die zumeist sehr kleinen Räder der Elektroroller scheitern schnell an Hindernissen, die für Fahr­räder überhaupt keine Gefahr darstellen. »Wir konnten beobachten, dass die meisten unserer Patienten, die mit so einem Gerät unterwegs waren, entweder von ihrem E-Scooter einfach heruntergefallen sind oder mit einem anderen fahrenden Objekt zusammen­geprallt waren«, sagt Dr. Joann Elmore, Mitautorin der ersten Studie zu diesem Thema, die im Januar im Journal of the American Medical Association veröffentlicht wurde. So musste ein Drittel der Personen, die mit einem E-Scooter einen Unfall hatten, ins Krankenhaus. Die meisten wiesen Knochenbrüche oder Kopfverletzungen auf. »Aber acht Prozent der Patienten standen gar nicht auf ihrem Elektroroller, sondern wurden von einem solchen angefahren.«

Angesichts verstopfter Straßen und mangelhafter öffentlicher Nahverkehrssysteme dienen E-Scooter immer mehr Menschen in den urbanen Zentren als alternatives Fortbewegungsmittel. In 60 US-Metropolen kann man sie mittlerweile über Apps mieten. Der National Association of City Transportation Officials zufolge wurden mit den Leih-E-Scootern 2018 38,5 Millionen Fahrten unternommen – keine schlechte Zahl für ein System, das es erst seit 2017 gibt. Außerdem scheint die sogenannte Mikromobilität nach Uber und Lyft »the next big thing« zu sein. McKinsey Deutschland zufolge investierten Geldgeber weltweit bereits 5,7 Milliarden US-Dollar in derartige Anbietersysteme. Bis 2030 erhoffen sie sich allein in Europa damit Umsätze von bis zu 150 Milliarden US-Dollar. Das ­E-Scooter-Startup Bird, bei dem auch Google beteiligt ist und das von dem ehemaligen Uber-Vizepräsident Travis Vanderzanden gegründet wurde, soll bereits zwei Milliarden US-Dollar wert sein, Konkurrent Lime 1,1 Milliarden US-Dollar.

Die Stadt Portland im US-Bundesstaat Oregon hat näher untersucht, wie Elektroroller sich auf das Verkehrsverhalten ihrer 650 000 Einwohner auswirken. Man kam zu dem Ergebnis, dass in einem Zeitraum von 120 Tagen mit 2 043 Leih-Elektrorollern 700 369 Fahrten von einer Gesamtlänge von 801 887 Meilen bewältigt wurden. 34 Prozent der Nutzer, die aus Portland selbst stammten, sowie 48 Prozent der Besucher der Stadt, die sie ebenfalls anmieteten, gaben an, dass sie ansonsten das eigene Auto oder Fahrdienste wie Uber benutzt hätten. Die Resonanz auf die Geräte war überwiegend positiv und auch in der Unfallstatistik verursachten sie keinerlei Auffälligkeiten. Grund dafür dürfte die Tatsache sein, dass in Portland im Unterschied zu Tel Aviv die meisten einen Helm tragen, keine Jugendlichen unter 16 Jahren damit unterwegs sind und generell eine größere Bereitschaft existiert, Regeln im Straßenverkehr einzuhalten.

Dass E-Scooter in sonnigen und überwiegend flachen Gegenden wie Israel oder Kalifornien zuerst ihren Siegeszug antraten, kann kaum verwundern. Aber nun sollen die handlichen Elektroflitzer auch in Deutschland zu haben sein, entweder im Handel oder via App auf Zeit. Diverse Anbieter warten bereits darauf Berlin, Hamburg oder Düsseldorf und Frankfurt mit ihren An­geboten zu beglücken. Bis dato waren die motorisierten Tretroller hierzulande verboten. Doch Anfang April beschloss das Kabinett auf Initiative von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) die »Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung«, die Mitte Mai nur noch ihre Hürde im Bundesrat nehmen muss. Mit bis zu zwölf Stunden­kilometern darf man dann auf dem Fußweg unterwegs sein und mit bis zu 20 Stundenkilometern auf dem Radweg. Auch die Benutzung der Straße ist vorgesehen. Eine Versicherung ist ebenfalls Pflicht, ein Helm dagegen nicht.

Während die Anbieter eine Überregulierung kritisieren, sehen Verbände wie der Fahrradclub ADFC bereits eine Rollerapokalypse auf die Städte zukommen. »Deutsche Radwege taugen nicht einmal für die sichere Abwicklung des vorhandenen Radverkehrs«, so ADFC-Bundesgeschäftsführer Burckhard Stork auf der Website des ADFC. »Wenn ab 2019 zusätzlich eine Welle von E-Scootern durch die Innenstädte holpert, werden wir sehr unschöne Szenen und viele Unfälle erleben.« Im Verkehrsausschuss des Bundesrats mehren sich die Bedenken. Man solle E-Scooter ­generell wie Fahrräder behandeln, weshalb sie auf den Bürgersteigen nichts zu suchen hätten, weil Kinder, Senioren oder Hör- und Sehgeschädigte schnell mit ihnen kollidieren könnten. Das wiederum gefällt dem ADFC nicht, weil langsamere Elektroroller den Radverkehr auf den Radwegen blockieren würden.

Außerdem wollen die Kommunen keine Wiederholung des Chaos, das oftmals in Asien beheimatete Leihradanbieter wie Obike verursacht hatten. Deren Mieträder blockierten Fußgängerwege oder landeten in Gewässern und Gebüschen, was sie zur Plage werden ließ. Eine unkontrollierte Invasion der Elektroroller würde mancherorts eine Art E-Scooter-Mikado produzieren, so die Befürchtungen: achtlos und übereinandergeworfene Geräte en masse. In Kalifornien boten Bird, Lime und Co. ihre E-Scooter ohne Genehmigung an, indem sie die Roller einfach im Stadt­gebiet verteilten. Das brachte Ärger, den einige Anbieter wiederum zu beschwichtigen versuchten, weshalb sie wie Lime in Santa Monica 1,3 Millionen US-Dollar für neue Radwege spendierten.

Im bayerischen Bamberg dagegen sind die Stadtwerke die Elektroroller-Avantgarde. Freiwillige wurden per Ausschreibung gesucht, um 15 Roller in einem Feldversuch zu testen – es meldeten sich über 400 Personen, was als deutliches Zeichen für das große Interesse an dieser Form der Mobilität zu deuten sein dürfte. Von einer Nutzung der E-Scooter auf dem mittelalterlichen Kopfsteinpflaster der Stadt wurde allerdings dringend abgeraten, was zu der Frage führt, wie das System in Berlin mit seiner katastrophalen Radweginfrastruktur funktionieren soll. Aber so manchen hauptstädtische Hipster wird das nicht abschrecken, zumindest bis die Miniräder seines E-Scooters erstmals Kontakt mit der Kante einer defekten Gehwegplatte gemacht haben. Die Zukunft der Kampfzone öffentlicher Raum verspricht also, blutig zu werden.