Lahme Literaten - Folge 13

Peter Stamm

Peter Stamm existiert. Er lebt in der Schweiz. Lange schwankte er zwischen einem Dasein als Schriftsteller und als Buchhalter. Peter Stamms Vater war Buchhalter. Peter Stamm wurde Schriftsteller. Seine ersten drei Romane fanden keinen Verlag. Seinen vierten mit dem Titel »Agnes« konnte er 1998 sechs Jahre nach Vollendung veröffentlichen. »Agnes« erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem Ich-Erzähler und Agnes. »Agnes« besteht aus einfachen, kurzen Sätzen. Trotzdem liest das Buch sich kompliziert. Sein Plot ist »die Summe von strategischen Entscheidungen, die bestimmte Bauformen aus dem narrativen Werkzeugkasten kombiniert« (Wikipedia). Seine Geschichte wird »immer enger, wie ein Trichter« (Ich-Erzähler). Sein erster Satz lautet: »Agnes ist tot.« Trotzdem geht es danach noch ziemlich lange weiter. Eben wie ein Trichter. Warum, bleibt rätselhaft. Aber die »narrative Zielorientierung wird durch viele Hinweise unterstützt, die als eine Textur des Scheiterns die Figurenwelt durchwirken« (Wikipedia).

Außerdem bezieht sich »Agnes« auf Max Frisch, Ovid, E. T. A. Hoffmann und Robert Walser, wodurch es reichlich komplex ist. Deshalb gehörte es mit »Dantons Tod« von Georg Büchner zur Pflichtlektüre für das Abitur 2014–2018 an allgemeinbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg (www.schule-bw.de). Der literarische Rang von »Agnes« ist damit bewiesen. Nach »Agnes« veröffentlichte Peter Stamm viele andere Bücher. Damit man sie sich besser merken kann, sind ihre Titel komisch: »Ungefähre Landschaft«, »Seerücken«, »Nacht ist der Tag«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«. Was in den Büchern steht, hat man nach der Lektüre vergessen. Trotzdem hinterlassen sie einen bleibenden Eindruck. Ulrich Greiner findet sie »ganz gut«, manchmal sogar »bedeutend besser«. Felicitas von Lovenberg entdeckt in ihnen »Formwille« und »Stilbewusstsein«. Iris Radisch findet sie »sympathisch unentschieden«. Ekkehard Knörer entziffert ihre »grundsätzliche Kontingenz als Signatur einer unhintergehbaren Gesellschaftsmoderne«. Eigenschaften, die sich in »Nacht ist der Tag« emblematisch verdichten: »Die Begebenheiten und Charaktere sind nicht spektakulär und dennoch lässt das Buch einem keine Ruhe, bis man es zu Ende gelesen hat.« (Wikipedia)

Was Peter Stamm von anderen unterscheidet, mit denen man ihn sonst verwechseln könnte, hat Hellmuth Karasek nach Erscheinen von »Agnes« mit dem Satz »Dies ist ein Erzähler, der sehr viel kann« zusammengefasst. Auch Germanisten finden Peter Stamm ganz gut. Sie untersuchen »Schnee, Schrift und Fotografie als paradoxe Erinnerungsstrategien« (Kathrin Wimmer), »Sehnsuchtsbilder und erzählerische Leerstellen« (Hartmut Vollmer) oder »Narrative Strategie und existentielle Inhalte« (Christina Rossi). Die »Lektürehilfen für Oberstufe und Abitur« zu »Agnes« resümieren: »Schweigen, Leere und Kälte sind drei wichtige Motive, die auf einer metaphorischen Ebene die Beziehung der beiden Protagonisten beschreiben.« Weil das ziemlich komplex ist, wird der Leser ermuntert: »Interpretieren Sie die vorliegende Textstelle unter besonderer Berücksichtigung der verwendeten Leitmotive.« Greiner, Lovenberg, Radisch, Knörer und Karasek haben es auch nicht anders gemacht. Und wer sich in Peter Stamms Trichtern trotzdem nicht zurechtfindet, dem hat der Autor in seinen Bamberger Poetikvorlesungen einen Hinweis gegeben: »Schriftseller zu werden, hat weniger mit dem Schreiben zu tun, als man denken könnte. (…) Erzähler kann man auch sein, wenn man nicht schreiben kann.«