Der Film »Die Kinder der Toten«

Zombies, Nazis, tote Weiber

Die Filmadaption des Romans »Die Kinder der Toten« von Elfriede Jelinek scheut sich nicht davor, mit ironischem Humor Fremden­feindlichkeit zu thematisieren, und weckt dabei Erinnerungen an die trashigen Filme Christoph Schlingensiefs.

»Der Tod ist Heimat«. Das flackert als Zwischentitel vor körnig schwarzem Hintergrund in der Stummfilm-Adaption von Elfriede Jelineks 1995 erschienenen Zombieroman »Die Kinder der Toten«. Den Film hat das Nature Theater of Oklahoma in Zusammenarbeit mit dem Festival Steirischer Herbst 2017 produziert, er kam jetzt im April in die österreichischen Kinos. Nein, der Satz stammt nicht aus dem Buch, und auch sonst kann man in der Bearbeitung lange nach wortgetreuer Wiedergabe irgendeiner Form suchen. Die Romanautorin hat kein ausgeprägtes Kon­trollbedürfnis diesbezüglich, dafür hat sie wahrscheinlich zu viel Ahnung von Kunst. Als Christoph Schlingensief 2003 ihr Stück »Bambiland« am Wiener Burgtheater inszenierte, kamen immerhin ganze fünf Sätze aus dem Originaltext vor. Hingegen wurde die Performancegruppe von Kelly Copper und Pavol Liska nun selbst in die Lage gebracht, ihrem Namen im Sinne des literarischen Vorbilds gerecht zu werden: »Nature Theater of Oklahoma« stammt aus Franz Kafkas Roman »Amerika«, das »Naturtheater von Oklahoma« sucht darin auf Werbeplakaten nach Mitspielern. »Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich!« steht auf den Plakaten, der Protagonist Karl folgt dem Aufruf.

Der Roman sowie seine Adaption beginnen mit einem Autounfall.

Bild:
Ulrich Seidl Filmproduktion

So geschah es auch in der Steiermark, wo unter der Dramaturgie von Veronica Kaup-Hasler und Claus ­Philipp vorab verschiedene Jelinek-Zitate plakatiert wurden, um Interesse für das Projekt zu wecken und ­Laiendarstellerinnen und -darsteller aus der Region für das Projekt zu in­teressieren. Die Vorbereitungen umfassten unter anderem das gemeinsame öffentliche Lesen des Romans am Drehort Neuberg an der Mürz. Man konnte sich dafür in eine Liste eintragen, die aussah wie ein Kondolenzbuch. So kam zum Beispiel der Polizeikommandant von Kapfenberg nach seiner Schicht regelmäßig vorbei, um Jelinek zu lesen. Einmal kam auch ein Kind, zum Glück waren an dem Tag keine pornographische Stellen dran.

Jelinek genießt bei der Landbevölkerung den Ruf, eine große Abneigung gegen Österreich zu hegen; aber wie sie selbst in einem Interview sagte: »Die Steiermark hasse ich am allerwenigsten!«

Die Autorin genießt vor allem bei der Landbevölkerung den Ruf, eine große Abneigung gegen Österreich zu hegen; aber wie sie selbst in einem Interview über ihre Geburtsregion sagte: »Die Steiermark hasse ich am allerwenigsten!« Man darf hoffen, dass die 144 Stunden Audioaufnahmen, von der lesenden Bevölkerung eingesprochen, in Zukunft dem Publikum auf irgendeine Art zugänglich sein werden, vielleicht als Hörbuch.

Auf 666 Rollen Super-8-Film (dieselbe Anzahl Seiten nämlich – die Zahl des Teufels – hat die Romanvorlage) wurde drei Wochen lang mit zwei Handkameras gedreht. Etwa zwei Jahre hatte die dramaturgische Aufbereitung zuvor gedauert, um aus diesem im Grunde unverfilmbaren Stoff zwei Erzählstränge herauszuarbeiten. Elfriede Jelinek ist bekennende Liebhaberin von Trash und nach eigener Aussage mit dem »jüdischen Zeitungsgen« ausgestattet, liest also nicht nur den ganzen Tag Zeitungen und Magazine, sondern auch oft mehr Lokalreportagen über Kriminalfälle in der Kronen Zeitung als sogenannte richtige Literatur. In »Die Kinder der Toten« arbeitete sie mit Splatter-Effekten und ihre Begeisterung für Serien wie »Les Revenants« oder Filme wie »Carnival of Souls« (»Tanz der toten Seelen«, 1962) ist auch der Verfilmung ihres Buchs deutlich anzusehen.

Wenn zu Beginn des Films ein alter Projektionsapparat gezeigt wird, der das Publikum blendet, sollte das nicht als Retro-Connaisseurtum missverstanden werden. Nichts hat diese Eingangsszene zu tun mit ratternden Projektoren auf Sockeln in Galerien, wo man mit immer den­selben Godard-Zitaten und dem sterilen Zurschaustellen der eigenen Reflexionsfähigkeit auf die Produk­tionsmittel gelangweilt wird. Die 8-mm-Aufnahmen sind als Anspielung auf die in den sechziger Jahren weit verbreiteten Urlaubs- und Amateurfilme zu verstehen, haben als »Medium der Erinnerung« mehr mit der Ästhetik von Instagram-Filtern als mit der Hochkultur gemein.

Die Toten im Roman steigen aus dem Schlamm einer reißenden Mure empor. Nun reichen die finanziellen Mittel des Steirischen Herbst nicht für Spezialeffekte, was allerdings der Sache künstlerisch sehr zugute kommt. Als konzeptuelle Finesse kommen die Toten im Film nicht aus dem Moor, sondern aus der Leinwand des »666 Cinema« herausgestiegen, das sich in einer stillgelegten Fabrik befindet, dessen Besitzer, ein ehemaliger Nazi, sich erhängt hat. Dort werden »heimliche Kino-Séancen« abgehalten, bei denen Filmaufnahmen von dem Publikum nahestehenden Verstorbenen gezeigt werden. Krankenschwestern reichen den Rotz-und-Wasser-Heulenden Taschentücher, die in einer Einstellung als Haufen auf dem Boden Assozia­tionen zu liegengelassenen »Utensilien« in Pornokinos wecken. »Die weiße Leinwand wird zum schwarzen Loch«, heißt es da. Der symbolische Schlamm des kollektiven Unbewussten wurde auf Super-8 transferiert und es entbehrt nicht der Ironie, dass der zu sehende »Aufmarsch der Untoten«, einer Parade berühmter toter Österreicher wie Hitler und Kaiser Franz Josef, aber auch etwa Briefbomben-Attentäter Franz Fuchs just in der Nacht vor der jüngsten Nationalratswahl 2017 gedreht wurde.

Autorin Jelinek 1998, drei Jahre nachdem »Die Kinder der Titen« erstmals erschien.

Bild:
picture alliance / Karl Schöndorfer Anbieter

Ein ebenso liebevolles Verhältnis wie zu Trash und, nebenbei gesagt, zu englischer Kriminalliteratur pflegt Jelinek zu Kalauern, und davon gibt es ein paar großartige in dieser Verfilmung. Das Fremde bricht ins steirische Dorf in Form einer Gruppe syrischer Lyriker ein. Auf der Suche nach syrischem Essen – denn die sensiblen Poeten vertragen nur diese – werden sie im Dorfgasthaus schroff abgewiesen. Auf dem englischen Schild des Restaurants stand nämlich »Authentic Styrian« und nicht ­»Syrian« Food. Schon ein Buchstabe kann eine Identitätsvorstellung erschüttern – auch sehr komisch etwa, wenn ein Mann vor den ausländischen Untoten Zuflucht in einer Kirche sucht und die Anwesenden vor den »Zombs« da draußen warnen will. Große Ratlosigkeit, bis ein etwas jüngerer Mann fragt: »Meinen Sie Zombies?« »Zombs, Zombies, ist doch scheißegal.« Das klingt wie ein Gespräch zwischen einem Filmnerd und seiner Großmutter, die halt einfach kein Englisch kann.

Das Verhältnis zum Originaltext ist in dieser Verfilmung nicht wie das von religiösen Fundamentalisten zu ihren heiligen Schriften, die sie wortwörtlich nehmen. Die größte Nähe zu Jelinek findet sich bei der Figur Karin, Tochter einer dominanten Mutter, die als Untote ihrer eigenen Doppelgängerin begegnet – ein klassisches Motiv der deutschen Romantik. Aber hier wird die romantische Schwülstigkeit der Erfahrung von bedrohter Identität stets gebrochen, etwa als die beiden am »Wasserfall zum toten Weib« (den gibt es wirklich) stehen und Karin feststellt: »Ich hatte immer schon befürchtet, dass ein Gespräch mit mir selbst langweilig wäre«, und »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine Liebesszene erleben würde, schon gar nicht mit mir selbst.« Das Unheimliche, für das sich Jelinek interessiert, ist auch der englischsprachigen Schwarzen Romantik eines Edgar Allan Poe oder einer Mary Shelley näher als Strömungen in der eigenen Muttersprache. Popkulturell könnte man sagen: Es ist eher die abschreckende Ambivalenz von Death in June als die pathetische Unendlichkeit von Tocotronic.

Apropos Musik: Der geniale Soundtrack von Wolfgang Mit­terer trägt einen großen Teil dazu bei, dass dieser Film so gelungen ist. Und ja, man kann Themen wie Faschismus und Fremdenfeindlichkeit auch mit reflektierter Distanz behandeln, die sich durch Humor und Ironie auszeichnet, wie seit Freuds »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten« bekannt ist. Das Unheimliche und das Schöne, die Trauer und das Bizarre müssen sich nicht ausschließen und können nebeneinanderstehen. Bei so viel Widersprüchlichkeit muss man nicht Angst um den Verlust der eigenen Identität haben, die an das eine oder andere und natürlich oft ganz stark an die Sprache selbst geknüpft ist, weil nämlich das Aufgeben einer starren Identität den Zugang zu anderen Welten erst eröffnet. »Die Geister der Toten, die solange verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder grüßen«, steht auf Hebräisch wie der Text für eine Unheil abwehrende Mesusa als Einleitung in Jelineks Roman und auch am Eingang des 666 Cinema im Film. Wenn man die Radikalität Christoph Schlingensiefs in den vergangenen Jahren schmerzlich vermisst hat, ist dieser Spruch wie eine Erinnerung daran, dass seine Ideen und seine Einflüsse hier definitiv einen geisterhaften Gruß dagelassen haben.

»Die Kinder der Toten« kommt im Dezember auf DVD in den Handel. Das Buch zum Film mit dem Titel »Die Untoten von Neuberg« ist im Styria-Verlag erschienen und kostet 25 Euro.