Die feindselige Dynamik in sozialen Medien

Krieg der Doppelgänger

Jeder kennt das: In Kommentarspalten im Internet eskaliert ein Streit. Warum Konflikte im Netz so rasch hochkochen, lässt sich mit der Kulturanthropologie René Girards erklären.

Alle wissen, dass man im Internet eines nicht tun sollte, nämlich Kommentare zu Artikeln ­lesen. Dieser Kardinalfehler kann nur noch davon übertroffen werden, auch noch auf solche Kommentare zu antworten und sich in eine Diskussion verwickeln zu lassen. Schnell ist man nicht nur eine Menge Zeit, sondern auch Selbstachtung losgeworden: Am Ende verhält man sich in der Regel genauso unmöglich, wie einem das Gegenüber vorkommt. Man lässt sich provozieren und provoziert munter zurück. Liest man einige Tage später erneut, was geschrieben worden ist, kann man ehrlicherweise nur noch feststellen, dass sich alle in gleichem Maße wie Idioten benommen haben. Aber wie konnte das passieren, wie konnte man jemand werden, der man nicht sein wollte?

Weil alle ständig um Anerkennung ringen müssen, wird im Internet nicht nur schnell zurückkommentiert, sondern auch schnell jeder beliebige Einspruch als Angriff gewertet.

Der Mensch ist, so der französische Literaturwissenschaftler und Kulturanthropologe René Girard, ein begehrendes Wesen. Ständig sehnt er sich nach irgendetwas, wobei leider nirgends festgelegt ist, schon gar nicht genetisch, wonach genau. Die Sehnsucht gilt in jedem Fall einem abstrakt bleibendem erfüllten Sein, denn worin die große Erfüllung bestehen soll, das weiß keiner so recht. Zu allem Überfluss ist der Mensch nicht alleine auf der Welt – und hier beginnen die Probleme. Der Mensch vergleicht sich also mit anderen und entwickelt dabei das vage Gefühl, der andere wüsste, was wirklich begehrenswert ist und zum »erfüllten Sein« führen könnte. Er begehrt das »Sein, das ihm seinem Gefühl nach fehlt und von dem ihm scheint, ein anderer besitze es«, wie Girard es in seinem Buch »Das Heilige und die Gewalt« ausdrückt. Weil der Mensch also irgendetwas will, aber nicht ­genau weiß, was, ahmt er den Wunsch eines anderen nach: »Das Begehren gemäß dem Anderen ist immer das Begehren, ein Anderer zu sein«, so Girard in »Figuren des Begehrens«. Dieses Nachahmen des Wunsches ­eines anderen nennt Girard »mimetisches Begehren«.

Bild:
adobe stock / Esther Moreno

Was gibt es aber im Internet, oder genauer, auf Social Media zu begehren? Wie der Medienwissenschaftler Johannes Paßmann in »Die soziale Logik des Likes« im Anschluss an Axel Honneth, Hartmut Rosa und Andreas Reckwitz schreibt, spielt vor allem die positive Resonanz von und die Verbindung mit anderen eine Rolle, kurz: Anerkennung. Es ist wechselseitige Anerkennung, die zu sozialer Mitgliedschaft und einem positiven Selbstbild führt – deswegen ist, so Honneth, die Gegenwart vor allem auch von Kämpfen um Anerkennung bestimmt.

Social Media trägt zur marktgemäßen Umformung sozialer Interaktion bei: Gesten der Anerkennung werden zur äquivalenten Tauschware, Verhältnisse zwischen Menschen werden verdinglicht.

Anerkannt wird man dabei in den Währungen der sozialen Netzwerke, und diese sind, so Paßmann, bezifferbar: Sie lassen sich in Freunden ­(Facebook) und Followern (Twitter), in Likes und geteilten Beiträgen ­bemessen, ebenso wie in positiven Kommentaren. Je mehr man davon hat, desto höher steigen »Autorität und Zirkulationswert«, desto anerkannter ist man Paßmann zufolge also. Zusätzlich gibt es weitere Nutzer, die selbst anerkannter sind, deren ­Likes und Retweets also mehr wiegen als die anderer. Wer einen Beitrag positiv bewertet und wer einem folgt, all das hat Einfluss auf den eigenen Status, den eigenen Grad der Anerkennung in sozialen Medien. Social Media trägt damit zur marktgemäßen Umformung sozialer Interaktion bei: Gesten der Anerkennung werden, so zitiert Paßmann Axel Honneth, zur äquivalenten Tauschware, Verhältnisse zwischen Menschen werden verdinglicht, weil sie auf Nutzen­kalkül basieren. »Freundschaft« in sozialen Medien beruht auf gemeinsamen Interessen und Zielen und erst nachrangig auf Sympathie und emotionaler Bindung. Und nicht ­wenige Freundschaften im Internet sind so langlebig wie ein geteiltes Ziel oder eine geteilte Feindschaft. Es sind recht eindimensionale Beziehungen, die der Komplexität keines Menschen gerecht werden.

Zudem: Ein User zeichnet im Internet nicht nur durch seine Beiträge ein Bild von seiner Persönlichkeit, sondern auch durch die Kontakte, mit denen er sich umgibt, durch die Likes, die er bekommt – und durch die, die er gibt. Auch durch diese verortet er sich und wird verortet. Diese Persönlichkeitsbilder zeigen zwangsläufig nur kleine Ausschnitte der Personen, die sie scheinbar abbilden, in Einzelfällen können sie sogar schlicht nichts mit ihnen zu tun haben.

Binnen kürzester Zeit wissen die Diskutanten kaum mehr, worum es ging, die Diskussion zerfranst in ­Nebenschauplätze, eigentlich geht es inhaltlich meist um nichts mehr.

Anerkennung und Aufmerksamkeit, das ist eine Binsenweisheit, sind knappe Güter. Wer sie will, steht in Konkurrenz zu anderen. So ist das eben mit dem mimetischen Begehren, würde Girard sagen: Der andere will dasselbe wie man selbst. Es kommt also zu Rivalität zwischen den Akteuren des mimetischen Begehrens, es kommt zum Konflikt. Diese Rivalität zwischen den Begehrenden steigert sich nicht nur, je näher einer von beiden dem Objekt der Begierde kommt, sondern auch, je näher die beiden Begehrenden einander sind. Die Rivalität von zwei Nutzern, die sich in demselben Kreis bewegen, ist größer als die von zwei mit je unterschiedlicher Bezugsgruppe. Die ­Rivalität von zwei Usern ist größer, wenn einer anerkannter ist als der andere, und dieser jenem seine Anerkennung streitig machen möchte, weil er findet, ihm selbst stünde sie eher zu.

Was tut man also, wenn man den anerkannten Nutzer in der virtuellen Gruppe der, sagen wir, Goethe-Fans eigentlich überbewertet findet, weil man selbst viel mehr über den Dichter zu wissen meint? Man greift ihn an, schließlich macht es einen fuchsteufelswild, dass dieser Haubentaucher so viel Anerkennung bekommt. Weil sich dieses Muster etabliert hat, weil zudem Menschen nicht immer gerne kritisiert werden und weil alle ständig um Anerkennung ringen müssen, wird nicht nur schnell zurückkommentiert, sondern auch schnell jeder beliebige Einspruch als Angriff gewertet. Es entbrennt eine Diskussion, ein Streit, ein Konflikt: Girard würde sagen, das mimetische Begehren schlägt um in Gegenspielermimesis.

Binnen kürzester Zeit wissen die Diskutanten kaum mehr, worum es ging, die Diskussion zerfranst in ­Nebenschauplätze, eigentlich geht es inhaltlich meist um nichts mehr. Auch um Anerkennung kann es oft genug nicht mehr gehen, führen sich doch beide Seiten in gleichem Maße unmöglich auf. Es dreht sich dann einzig und allein darum, recht zu haben, auf jeden Fall will man nicht klein beigeben. Eben das ist, so Girard, typisch für die Gegenspielermimesis: Das begehrte Objekt wird im Verlauf des Konflikts unwichtig, die Kontrahenten sehen nur noch ­einander, der eine ahmt den Schlag des anderen im Gegenschlag nach. Es ist, wie man so schön sagt, ein Niveaulimbo. Die Rivalen werden sich, so Girard, im Laufe des Konflikts ­immer ähnlicher, sie werden zu Doppelgängern, ihr Verhalten ist nicht mehr unterscheidbar. Wie Donald Duck und Gustav Gans, die sich ­bekriegen und dabei den Anlass – Daisy Ducks Gunst – vergessen.

Ist man einmal aneinandergeraten, gerät man – sofern man sich online in thematisch oder sozial ähnlichen Gefügen bewegt – höchstwahrscheinlich wieder aneinander. Und es ist gar nicht so selten, dass sich eine Seite in der anderen verbeißt und immer wieder den Konflikt sucht. Das lässt sich on- wie offline beobachten, und man gerät umso schneller immer wieder aneinander, je härter die Konflikte ausgetragen werden und ja näher man einander ist. Ein Konflikt zieht also oft einen weiteren nach sich.

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Dies ist auch in der Theorie Girards der Fall. Ihr zufolge überträgt sich der Konflikt sogar auf das Umfeld der Rivalen: »Die Unentscheidbarkeit des ersten Konflikts überträgt sich ganz natürlich auf den zweiten, der den ersten wiederholt und auf eine Vielzahl von Personen ausweitet«, schreibt er in »Das Heilige und die Gewalt«. Die Folge davon ist eine »Entdifferenzierung«: Innerhalb der Gruppen, die sich nun in Rivalität und Konflikt gegenüber stehen, werden alle Differenzen im gemeinsamen Streben nach Rache am Gegner aufgehoben. Ganze Gruppen werden jetzt zu Doppelgängern voneinander, die Schlag um Schlag wechselseitig nachahmen.

In sozialen Medien ist häufig eine ganze Gruppe bereits am ersten Konflikt beteiligt. Selten gerät nur ein Fan der Marvel-Filme online mit ­einem Kritiker der Marvel-Filme aneinander, sie bringen jeweils ihre Freunde mit. »Freunde« freilich im Social-Media-Sinne: Gemeinsam ist ihnen das gemeinsame Interesse, die Freundschaft basiert nicht auf der Wertschätzung des anderen als einer vielschichtigen Persönlichkeit. Online sind die Gruppen also schon vor dem Konflikt entdifferenziert. Und umso leichter werden sie zu Doppelgängern der anderen Gruppe.

Wer sich online mit einem Gruppenmitglied anlegt, hat sie schnell alle an der Backe.

Dabei muss man bedenken, dass es unterschiedliche Typen von Netzwerken auf Social Media gibt. Andreas Reckwitz unterscheidet in »Die Gesellschaft der Singularitäten« drei Formen: erstens die heterogenen Kollaborationen beziehungsweise Netzwerke ohne feste Außengrenzen, zweitens Singularitätsmärkte und drittens Neogemeinschaften. Entdifferenzierte Gruppen von Usern sind Reckwitz zufolge Neogemeinschaften. Gerade zu heterogenen Kollabora­tionen dürften Neogemeinschaften im Gegensatz stehen.

Neogemeinschaften, so Reckwitz, »sind Kollektive, denen aus Sicht ihrer Mitglieder wie äußerer Beobachter als ganzen das Merkmal des Singulären zukommt. Nicht die Individuen oder Objekte (Bilder, Texte) beanspruchen hier ­Besonderheit, sondern das Kollektiv in seiner Gesamtheit.« Von traditionellen Gemeinschaften unterscheiden sie sich dadurch, dass sie Wahl­gemeinschaften sind, für die die Mitglieder sich freiwillig entschieden haben. »Durch den Eintritt in eine (digitale) Neogemeinschaft gibt das Subjekt gewissermaßen zumindest eine Zeitlang seinen eigenen Besonderheitsanspruch auf und verlagert diesen auf das Kollektiv. Nach innen existiert eine mehr oder minder beträchtliche narrative oder ästhetische Eigenkomplexität des Kollektivs, nach außen eine mehr oder minder scharfe Abgrenzung gegenüber den Anderen und ›Ungläubigen‹. Es handelt sich also um genuine Kommunikationsgemeinschaften, die als Inter­pretationscommunities und kollektive Aufmerksamkeitsfilter wirken.«

Geraten zwei Gruppe im Netz aneinander, werden sie schnell zu ihren jeweiligen Doppelgängern. Sie führen Rivalitäten endlos und immer wieder neu weiter, rächen sich aneinander, werden zu Spiegelbildern.

Wer öfter online ist, kennt solche Gruppen: User, die häufig zusammen auftreten, gemeinsame Feindbilder, Idole, Kommunikationsstile und – im Internet ganz wichtig – Insiderwitze teilen. Wer sich online mit einem von ihnen anlegt, hat sie schnell alle an der Backe. Neogemeinschaften sind leichter aktivierbar als heterogene Kollaborationen: Ein User mit 1 000 leicht aktivierbaren und ihn unterstützenden Followern ist in einer Diskussion häufig noch unzugänglicher als einer mit einem heterogenen Netzwerk von 10 000 Nutzern, die aber im Zweifelsfall nicht jedem Post von ihm den Daumen ­heben und jeden Angriff mitabwehren. Soziales Kapital auf Social ­Media unterscheidet sich nicht nur nach Zahl und sozialer Position der Kontakte, sondern auch nach ihrer Aktivierbarkeit. Und geraten nun solche Neogemeinschaften im Netz aneinander, werden sie schnell zu ihren jeweiligen Doppelgängern. Sie verhalten sich ähnlich unangenehm, sie schreiben auch rasch wie die Gegenseite. Sie führen Rivalitäten endlos und immer wieder neu weiter, rächen sich aneinander, werden zu Spiegelbildern. Man durchforstet wechselseitig die Chronik der anderen, zieht irgendwelche Screenshots aus der Tasche und wirft sich gegenseitig Doppelmoral bis in die Posts und Tweets des Vorvorjahres hinein vor.

Und: Nutzer in Neogemeinschaften missverstehen oft diejenigen, die ­Social Media eher im Sinne einer heterogenen Kollaboration nutzen, da schlicht Unverständnis oder gar kein Bewusstsein für andere Formen des Online-Verhaltens existiert. Gerät ein User, dessen Netzwerk heterogen ist, mit einem User einer Neogemeinschaft aneinander, findet er sich nicht nur alleine einer Vielzahl von Usern statt nur einem Gesprächspartner gegenüber. Zudem kann er – weil sein Netzwerk heterogen ist und sich also mit einiger Wahrscheinlichkeit auch jemand aus »der falschen Gruppe« darunter befindet – schnell und einfach der vermeint­lichen Gegenseite zugeschlagen werden, zur Not reicht es dafür auch schon, wenn seine Beiträge von den Falschen mit einem Like versehen werden.

Wie kann man nun dem Kreislauf der Gegenspielermimesis, der um sich greifenden Entdifferenzierung, dem Doppelgängertum im Internet entgehen? Girards deskriptive Theorie kann hier keine Hilfe mehr sein. Die Antworten werden unterschiedlich ausfallen müssen. Für den Umgang mit wirklich (verbal und physisch) gewalttätigen Trollen und Stalkern haben Netzaktivisten wohl die besseren Lösungen parat, hier bedarf es auch rechtlichen Schutzes und ­eines sensiblen Vorgehens der Plattformen selbst. Da es sich bei den von diesen spezifischen Nutzertypen Angegriffenen häufig auch außerhalb des Internet um diskriminierte Personen handelt, ist dies aber auch ein umfassenderes politisches Problem.

Für alle anderen hat vielleicht ­Johannes Paßmann eine Lösung ­bereit. Er untersuchte das Verhalten auf Twitter vor allem anhand des verpönten Tweetklaus, bei dem sich User die Tweets anderer unrecht­mäßig aneignen. Das kann zu einer Degradierung des Users führen, also zum Verlust jeglicher Anerkennung. Dies wird aber deutlich schwerer, wenn sich die Twitter-User auch jenseits des Internet kennen: »So macht man sich zwar mit Regelmäßigkeit auf Twittertreffen über besonders dreiste Tweetkopierer lustig, die eben nicht zum engeren Kreis der sich treffenden Twitterer gehören. Aber auch in diesem Kern haben manche zumindest ihren ­Account durch Übersetzung amerikanischer Tweets ­gepusht. Bringt man dies vor, bekommt man in der Regel die Antwort: ›Aber der ist total nett‹, oder: ›Ja, den fand ich eh schon immer scheiße‹, was letztlich dasselbe bedeutet: Er wird dadurch nicht zu einer neuen Person, sondern bleibt der alte, der er eh immer schon war. Gehört also einer zum sich auch offline vergemeinschaftenden Kern, wird eine Statusdegradierung zwar nicht unmöglich – auch das gab es –, dafür muss aber mehr vorfallen als Tweetklau.«

Es klingt banal und ist es auch: Am besten beugt man der Annahme ­einer entdifferenzierten Persönlichkeit eines anderen Users vor, indem man ihn auch offline kennt. Das erschwert die Entdifferenzierung. Oder aber man beugt dem vor, indem man sich zumindest immer mal ­wieder in Erinnerung ruft, dass man online nur einen minimalen Ausschnitt dieser Person erlebt, von der man sich vielleicht kein umfassendes Bild machen sollte, das man dann mit der Realität verwechselt. Vielleicht verzichtet man auch mal auf Mutmaßungen über böse Absichten und Einstellungen eines oder mehrerer User, nimmt auch mal nicht an, dass irgendwer mit irgendwem unter einer Decke stecken und irgendein doppeltes Spiel spielen könnte. Man kann sich kritisch mit Menschen auseinandersetzen, ohne ihnen eine Persönlichkeit überzustülpen und Motive zu unterstellen, die sie nicht haben. Hin und wieder sollte man sich vielleicht vorstellen, dass vor den anderen Monitoren auch Menschen sitzen. Menschen mit ausdifferenzierten, komplexen Persönlichkeiten, manche mehr, manche weniger sympathisch.