Planwirtschaft im Kapitalismus

Volksrepublik Walmart

Die US-Supermarktkette Walmart gilt als Inbegriff der kapitalistischen Ausbeutung. Doch legt Walmart in Wahrheit die Grundlage für den Sozialismus?

Der Titel »Volksrepublik Walmart« des dieses Frühjahr auf Englisch erschienenen Buchs der Wirtschafts- und Wissenschaftsjournalisten Leigh Phillips und Michal Rozworski enthält eine doppelte Provokation. Ausgerechnet eine amerikanische Supermarktkette, die quasi metonymisch für kapitalistische Ausbeutung steht, soll, wie der Untertitel behauptet, die »Grundlagen für den Sozialismus« legen? Die Antwort, die die Autoren in dem Buch geben wollen, ist vielleicht noch anstößiger: Ja, denn es handelt sich bei der Supermarktkette als Inbegriff des zeitgenössischen Kapitalismus paradoxerweise um eine Planwirtschaft.

Die US-Supermarktkette Walmart stelle eine kapitalistische Planwirtschaft dar, die in etwa die Wirtschaftsleistung Schwedens hat.

Den Begriff der Planwirtschaft ­assoziiert man heutzutage reflexhaft mit Gulag und Hungersnöten; überraschend wirkt deshalb, dass die Liberalen Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek, die in »People’s Republic of Walmart«, so der Originaltitel des Buchs, im Rahmen einer Skizze der Debatte über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus, die vor allem in den zwanziger Jahren geführt wurde, zitiert werden. Noch 1935 schrieb der in seinen jungen Jahren mit sozialdemokratischen Ideen liebäugelnde Hayek in »Collectivist Economic Planning«, dass es kaum noch eine politische Gruppierung gebe, die die bewusste Regulierung der sozialen Angelegenheiten den Vorzug vor dem scheinbar willkürlichen Zusammenspiel unabhängiger Individuen geben würde – um allerdings dann zu behaupten, dass Wirtschaft ohne Privateigentum nicht möglich wäre.

74 Jahre später und 30 Jahre nach dem Untergang des Realsozialismus, zitiert Mark Fisher Hayek als einen der Begründer der Weltanschauung des »kapitalistischen Realismus«, die jede Alternative zum methodischen Individualismus der Marktideologie als Stirner’schen »Spuk« erscheinen lässt. Einen theoretischen Abwehrkampf gegen die Planwirtschaft zu führen, wie es Hayek und Mises noch taten, würde heutzutage geradezu absurd unzeitgemäß wirken, gilt die Idee doch als so bankrott, dass ihre bloße Erwähnung schon als Argument gegen sie durchgeht. Vom Individuum wird Planung jedoch jederzeit erwartet: Wie Ulrich Beck in seinem Klassiker »Risiko­gesellschaft« 1986 einigermaßen visionär schrieb, muss im deregulierten Postfordismus »der einzelne« para­dox­erweise »bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw.« begreifen, und zwar in dem Maße, in dem die ohnehin immer schon beschränkten Möglichkeiten von individueller Planbarkeit vor dem Hintergrund der Prekarisierung von Lebensverhältnissen weiter schwinden.

Die Bedingung der Möglichkeit des Sozialismus lag für Hayek zuallererst in der Planbarkeit der Ökonomie, die der Ökonom bestritt, moralphilosophische, anthropologische und psychologische Argumente gegen den Sozialismus, obwohl nicht irrelevant, spielten für ihn eine untergeordnete Rolle. Phillips und Rozworski lassen dem Teufel sein Recht, drehen den Spieß in ihrem Buch aber insofern um, als sie die Anhänger der Idee der überlegenen Allokationsfähigkeit des Marktes eines ungeglaubten Glaubens überführen. Wollten Mises und Hayek den Gemeinspruch, der Sozialismus funktioniere nur in der Theorie, dahingehend radikalisieren, dass er nicht einmal theoretisch möglich sei, so lautet die Antwort von Phillips und Rozworski, dass die ­Argumente der beiden auf dem Papier vielleicht diskutabel erscheinen mögen, in der Praxis aber widerlegt seien, der Kapitalismus nämlich nicht ohne Planwirtschaft funktioniere.

Die »true believers« des Marktfundamentalismus gehen mit ­fliegenden Fahnen zugrunde, während die ­ironischen Zyniker, die ­wissen, dass ihr Verhalten nicht zu ihren Überzeugungen passt, reüssieren.

Als titelgebendes Beispiel dient ihnen dabei, inspiriert durch eine Fußnote in Fredric Jamesons »Archaeologies of the Future« (2005), die US-Supermarktkette Walmart, die den Autoren zufolge eine kapitalistische Planwirtschaft mit einer Wirtschaftsleistung von etwa der Größe der schwedischen darstellt. Innerhalb des Walmart-Konzerns, so der Befund, greifen keinerlei Markt­mechanismen, die Koordination von Zulieferern, Filialen und Abteilungen beruht auf Kooperation und Planung – ein Skandal angesichts des ubiquitären Glaubens an den Markt, wirkt es doch so, dass hier nicht ­lediglich supplementär auf Planung zurückgegriffen wird, sondern diese geradezu das Erfolgsrezept der Walmart-Kette darstellt.

Auch die Gegenprobe bleibt nicht aus. Ein Unterkapitel widmet sich der ideologieinduzierten Selbstzerstörung von Sears, Roebuck & Co., ­einer Warenhauskette, die durch eine von der Philosophin Ayn Rand inspirierte, marktextremistische interne Umgestaltung an den Rand der Funktionsunfähigkeit getrieben wurde, Milliardenverluste zu verbuchen ­hatte, und deren Filialen am Ende den Charme spätsowjetischer Supermärkte verströmten, mitsamt leeren Regalen und marodem Interieur, wie die Autoren mit maliziöser Ironie bemerken. Eddie Lampert, Geschäftsführer von Sears zwischen 2013 und 2018, vollbrachte diese Leistung, indem er die Fillialen der Kette in kleine, miteinander konkurrierende Einheiten aufspaltete, auf dass der Markt seine Magie wirken lassen könne und das Unternehmen insgesamt seinen Ertrag steigere.

Eine ideologiekritische Denk­figur von Slavoj Žižek aufgreifend, könnte man den Unterschied zwischen dem System Walmart und dem System Sears als den Unterschied zwischen zynischem und fundamentalistischen Fetischismus beschreiben: Die »true believers« des Marktfundamentalismus gehen mit ­fliegenden Fahnen zugrunde, während die ­ironischen Zyniker, die ­genau wissen, dass ihr Verhalten nicht zu ihren Überzeugungen passt, ­reüssieren.

Um ihrer These von der Wiederkehr der verdrängten Planung noch mehr Gewicht zu leihen, lassen Phillips und Rozworski (gewiss nicht völlig ohne Spaß an der Provokation) einen weiteren Gottseibeiuns kapitalismuskritisch gesinnter Zeitgenossen auftreten, namentlich den Chef von Amazon, den »glatzköpfigen Stalin ohne Schnurrbart« Jeff Bezos: Big Data hat zwar Klassencharakter, so könnte man das Fazit der Analyse des »intensiv gemanagten Chaos« von Amazon zusammenfassen, kann aber prinzipiell in den Dienst einer vernünftigen, demokratischen Bedürfnisproduktion gestellt werden. Die Informationsmenge, die Amazon dank avancierter Technik zur Ver­fügung steht und die selbst die Planung antizipatorischen Versands nicht utopisch erscheinen lässt, wirft ein grelles Licht auf den informationstechnologischen Zeitkern von Hayeks Argument von der informationellen Überlegenheit der Märkte über die Planwirtschaft.

Phillips und Rozworski plädieren keineswegs für eine Rückkehr zu ­einem »etatistischen Kasernensozialismus« (Robert Kurz) auf höherem Niveau. Gingen Hayek und Mises davon aus, dass Informationsdefizite zu Autoritarismus führten, vor dem nur der Markt retten kann, drehen die Autoren das Argument erneut um: Weil autoritäre Kommandostruk­turen zur Verschlechterung führen, kann Planung nur demokratisch funktionieren, so ihre Bilanz der in zwei konzisen Kapiteln analysierten Wechselfälle der realsozialistischen Planwirtschaft.

Dass es dafür bereits Ansätze gab, legen sie in einem der durch den Putsch von Pinochet brutal »abgeschafften Zukunft« (Mark Fisher) des chilenischen Cybersyn-Projekts gewidmeten Kapitel dar. Dabei handelt es sich um den hochambitionierten Versuch der Regierung von Salvador Allende, eine Art Proto-Internet zur Koordination und Planung der chilenischen Wirtschaft in Echtzeit einzurichten, wobei sie auf die ­enthusiastische Unterstützung des Briten Stafford Beer, des »Vaters der Management-Kybernetik« (Norbert Wiener) zurückgreifen konnten.

Die Kybernetik hat in linken Kreisen einen schweren Stand, namentlich bei den heideggerianischen Anarchisten von Tiqqun, die sie als totalitär ablehnen und ihn ihr eine »neue Herrschaftstechnologie« zu erkennen meinen. Die Autoren von »People’s Republic of Walmart« betonen demgegenüber ausdrücklich, dass die ­Kybernetik von Norbert Wiener und Stafford Beer gerade als Mechanismus zur Vermeidung von Herrschaft konzipiert wurde. Insbesondere Beers Anliegen war es, das Maximum an Selbstorganisation, das noch eine systematische Planung gewährleisten kann, zu bestimmen, wobei er bei Allende gerade wegen der dezentralen, partizipatorischen und antibürokratischen Perspektiven auf offene Ohren stieß. Statt des Cyber-Sozialismus wurde in Chile jedoch ein anderes Experiment auf blutige Weise zum ersten Mal durchgeführt, nämlich das neoliberale Projekt von Austerität, Deregulierung und Privatisierung, mit den bekannten Schäden.

Das letzte Kapitel »Planning the Good Anthropocene«, von dem eine Version bereits zuvor im Magazin ­Jacobin veröffentlicht wurde, argumentiert, wie der Titel bereits vermuten lässt, gegen marktförmige Maßnahmen gegen die Klimakrise, wie sie vor allem von Liberalen und Grünen propagiert werden. Von der weiteren Eskalation der sozialen Ungleichheit durch Einheitssteuern abgesehen, sei schlichtweg weder plausibel noch erwartbar, dass mittels des Markts eine effiziente Dekarbonisierung zu leisten sein wird. Statt für den kapitalistischen Realismus der Öko-Austerität plädieren die Autoren für eine globale, demokratisch kontrollierte Planwirtschaft zur Rettung der Menschheit. Der Planet, so zitieren sie Stephen Jay Gould, wird es nämlich schon überleben.

Leigh Phillips/Michal Rozworski: People’s Republic of Walmart. How the World’s Biggest Corporations are Laying the Foundation for Socialism. Verso 2019, 256 Seiten.